Der Begriff der Depression – zwischen Verharmlosung und Universalisierung

Begriff der Depression

Der Psychologe Nick Haslam und die Philosophin Maria-Sybilla Lotter befassen sich mit dem Concept Creep, der semantischen Ausdehnung bestimmter, vor allem leidensbezogener, Begriffe. Interessant erscheint dieser Ansatz auch bezüglich des Begriffs der Depression, der sich in den letzten Jahren in der Alltagssprache ausgebreitet, dabei jedoch mehr und mehr den Bezug zur medizinischen Kategorie verloren hat. Was genau bedeutet das für den Begriff, die Kategorie und Betroffene? Und wie sinnvoll lassen die Überlegungen Haslams und Lotters sich in der Praxis nutzen?

Concept Creep: Semantische Entgrenzung mit Folgen?

Die Überlegungen Haslams und Lotters sind simpel: Anhand von Beispielen zeichnen sie nach, wie die definitorischen Grenzen leidensbezogener Begriffe wie Trauma, Sucht, Mobbing oder Hass sich im Laufe der Zeit verschoben haben. Die Schlüsse, die sie aus diesen Beobachtungen ziehen, sind zum Teil nachvollziehbar, in mancherlei Hinsicht jedoch hochproblematisch. Führt Lotter etwa aus, dass ein Mensch, der in der Gegenwart als traumatisiert bezeichnet wird, „schwere Folter oder Vergewaltigung durchlitten haben oder auch bloß Zeuge eines Autounfalls geworden sein“ [1] [meine Hervorhebung, L.K.] könnte, so setzt dies ein vorgängig gegebenes Bewertungsschema der Schwere verschiedener einschneidender Ereignisse voraus, an dem die Einordnung des Ereignisses ohne Ansehung des leidenden Individuums festgemacht werden kann. Ein solches Schema vorauszusetzen, bedeutet jedoch, die subjektive Ebene eines jeden menschlichen Erlebens zu negieren: Können Ereignisse hinsichtlich ihres Beeinträchtigungscharakters vorgeblich objektiv hierarchisch gegliedert werden, so verschwindet das Individuum als wesentlicher Bewertungsfaktor aus der Rechnung. Äquivalentes lässt sich für die anderen von Haslam und Lotter untersuchten Begriffe feststellen: Das Leiden wird verobjektiviert und dem leidenden Individuum damit implizit die Kompetenz der Einschätzung der eigenen Situation zugunsten einer scheinbar objektiven Skala entzogen. Das jedoch ist problematisch: Vor dem Hintergrund einer grundlegenden epistemischen Unsicherheit kann eine solche Skala sich nicht schlicht auf apriorische Tatsachen berufen, sondern muss als sozial konstruiert verstanden werden – sie ist damit das Produkt einer spezifischen Machtformation, der das Individuum mitsamt seinem Erleben untergeordnet wird. Lotter verbindet diese Beurteilung mit einer Art konservativen Kulturkritik, die die Verletzlichkeit jüngerer Generationen anprangert – und stellt ihre problematischen Schlüsse damit in den Dienst eines problematischen Programms.

Diese umfassenden Probleme betreffen jedoch die Schlüsse, die aus der beobachteten semantischen Veränderung gezogen wurden, nicht aber die Beobachtung selbst. So ist empirisch tatsächlich festzustellen, dass Begriffe wie Trauma oder – um zum Kern des Artikels vorzudringen – Depression immer häufiger genutzt werden und dabei einen breiteren semantischen Gehalt haben als in der Vergangenheit. Doch inwiefern ist eine solche semantische Verschiebung problematisch?

Semantische Verschiebungen innerhalb von Fachdisziplinen

Zur Erörterung dieser Frage ist es zunächst sinnvoll, unterschiedliche Diskurse zu differenzieren. Der Begriff der Depression etwa ist sowohl im medizinisch-psychotherapeutischen als auch im Alltagsdiskurs vorzufinden. Die divergierende kontextuelle Gebundenheit dürfte dabei Auswirkungen auf den jeweiligen semantischen Gehalt haben. Semantische Verschiebungen im medizinisch-psychotherapeutischen Fachdiskurs lassen sich anhand der Veränderung der Diagnosekriterien in den einschlägigen Manualen gut nachvollziehen. Beobachten lässt sich hier, dass der Begriff der Depression in unterschiedlichsten Formen auftaucht und wieder verschwindet. Heute wird etwa nicht mehr zwischen einer endo- und einer exogenen Depression unterschieden. Auch eine Altersdepression ist heute nicht mehr bekannt, ebenso wie die agitierte Depression oder die atypische Depression. Zurückzuführen sind derartige Veränderungen in den Diagnosemanualen vielfach auf neue Erkenntnisse zu Genese und Verlauf einer Erkrankung. So ist die Streichung der Altersdepression als spezifischer Form der Depression etwa darauf zurückzuführen, dass erkannt wurde, dass eine Depression im Alter nicht grundlegend anders verläuft oder entsteht als in anderen Lebensphasen.

Nicht auf derartige Erkenntnisse zurückführbar ist jedoch eine tatsächliche semantische Entgrenzung des Depressionsbegriffs im DSM-V, die breit rezipiert und kritisiert wurde: Mit der Überarbeitung des Manuals wurde festgeschrieben, dass eine Depression bereits dann vorliegt, wenn Trauer nach dem Tod eines*r Angehörigen länger als zwei Wochen anhält. [2] Hierin kann – anders als in den anderen fachdiskursiven Veränderungen der Depressionssemantik – tatsächlich eine Art Concept Creep ausgemacht werden. Interpretiert werden kann das als auch und vor allem ökonomisch motivierte Pathologisierung.

Depressionsbegriffe im Alltagsdiskurs

Kategorial vom Fachdiskurs zu unterscheiden, ist der Diskurs des Alltags. Zu beobachten ist hier eine massive Anreicherung mit Begriffen aus der medizinisch-psychotherapeutischen Fachsprache, die jedoch häufig einen anderen semantischen Gehalt aufweisen. Besonders gut illustrieren lässt sich das für Fachtermini aus der psychoanalytischen Tradition: Begriffe wie Verdrängung, Unbewusstes oder Über-Ich sind in der Alltagssprache häufig zu hören, weisen einen deutlichen Bezug zu psychologisch gefärbten Konzepten auf, sind jedoch mehr oder minder weit vom tatsächlichen psychoanalytischen Konzept entfernt, was bei Abgleich des Alltagsverständnisses mit der Fachdefinition auffällt. Problematisch erscheint eine solche Entwicklung zunächst nur insofern, als sie Missverständnisse begünstigt. Bei Betrachtung des Depressionsbegriffs, der hier stellvertretend für viele Erkrankungsbegriffe steht, zeigt sich jedoch, dass die semantische Verschiebung, die ein ursprünglich rein fachsprachlicher Begriff in der Alltagssprache erfährt, deutlich weitergehende Konsequenzen hat.

Aussagen über deprimierendes Wetter oder Beschreibungen alltäglicher Zustände von Müdigkeit und Lustlosigkeit als depressiv etwa tragen zur Vermittlung eines deutlichen Fehlbildes des medizinischen Depressionskonzepts bei. Durch die unkritische Verwendung derartiger Termini im Alltag und ihre unreflektierte Vermengung mit medizinisch-psychotherapeutischen Wissensbeständen wird ein Bild der Depression erzeugt, das weit an der Wirklichkeit Betroffener vorbeigeht. Deutlich illustriert wird das etwa von einer Umfrage aus dem Jahr 2017, bei der achtzehn Prozent der Befragten Schokolade für ein geeignetes Therapeutikum hielten und neunzehn Prozent angaben, Depressive müssten „sich zusammenreißen“. [3] Ein knappes Drittel der Befragten gab ferner an, Charakterschwäche für eine Ursache der Depression zu halten.

Eine solche Begriffsverschiebung von einem medizinisch-psychotherapeutischen [4] hin zu einem alltäglich-unreflektierten Depressionsbegriff hat damit vor allem eine Verharmlosung tatsächlicher Depressionssymptome sowie unter Umstände eine Stigmatisierung Betroffener zur Folge. Die im Alltag beobachtbare semantische Verschiebung hat damit tatsächlich weitreichende Folgen, die jedoch gänzlich andere sind als die von den Concept-Creep-Theoretiker*innen postulierten.

Eine vorgeblich allgemeine Bewertungsskala von Schweregraden wie bei Lotter wird in der vorliegenden Kritik damit indes nicht bemüht: Verwiesen ist vielmehr auf qualitative Unterschiede zwischen den beschriebenen Alltags- und den (im medizinischen Sinne verstandenen) Depressionserfahrungen. Der Begriff wird hier folglich nicht ausgeweitet auf vorgeblich schwächere Formen des Phänomens, sondern auf von diesen kategorial unterschiedene angewandt. Ein weiterer zentraler Unterschied zum Concept Creep besteht damit darin, dass der Begriff – das zeigt die Umfrage – nicht gedehnt, sondern verschoben wird. Er bezeichnet nicht mehr, sondern schlicht andere Zustände. In diesem Umstand liegen die beschriebenen Probleme begründet.

Fazit: Der Begriff der Depression

Festhalten lässt sich damit, dass ein fehlendes Bewusstsein für divergierende Diskurse mit divergierenden Begriffsdefinitionen sowie die Vermengung der jeweiligen Wissensbestände zu verzerrten Annahmen führen kann, die wiederum Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit Betroffenen haben können. Hinsichtlich semantischer Verschiebungen bedeutet das, dass auch hier in der Untersuchung zwischen der jeweiligen Sphäre der Begriffsverwendung unterschieden werden sollte. Im medizinischen Diskurs etwa ist nur eine geringfügige Ausdehnung des Depressionsbegriffs zu beobachten; gleichzeitig jedoch kann das Entstehen eines Alltagsbegriffs der Depression beobachtet werden, der sich deutlich vom medizinischen Begriff unterscheidet, aufgrund des fehlenden Wissens um diese Unterschiede jedoch rückwirkt auf die Beurteilung Betroffener. Insgesamt scheint eine vor allem im Alltagsdiskurs bewusstere Begriffsverwendung ratsam.

Verweise:
1. Lotter, Maria-Sybille (2021): „Wann wird Sprache zur Gefahr?“. In: DIE ZEIT. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2021/03/sprachgebrauch-diskriminierung-gefahr-begriffe-missverstaendnis [15.05.22]
2. Vgl. Wagner, Birgit (2016): „Wann ist Trauer eine psychische Erkrankung? Trauer als diagnostisches Kriterium in der ICD-11 und im DSM-5“. In: Psychotherapeutenjournal. S. 252.
3. Czaplicki, Andreas (2017): Deutschland-Barometer Depression 2017. Online verfügbar unter: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer-depression/2017 [15.05.22]
4. Vgl. o.V. (o.J.): Depression. Ursachen, Symptome & Therapie. Online verfügbar unter: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/depression [15.05.22].