Schreibtherapie: Von heilenden Worten

Schreibtherapie

Dass Worte heilen können, darf getrost als eine menschliche Grunderfahrung bezeichnet werden. Fernab von und lange vor institutionalisiertem therapeutischem Schreiben griffen Menschen zu formelhaften Wortverbindungen, um Krankheiten oder Dämonen zu vertreiben. So abwegig uns das heute erscheinen mag – der Glaube an das heilende Wort hat sich, berechtigterweise, gehalten. Tagebücher, die gut verschlossen und versteckt allerlei Geheimnisse bewahren, sind nicht selten des Menschen treuste Begleiter in den hellsten wie in den dunkelsten Stunden. Was nicht wirksam ausgesprochen werden kann, sei es aufgrund einer inneren Blockade oder eines fehlenden Gegenübers, wird – ganz im Sinne der Schreibtherapie – zu Papier gebracht. Hier antwortet zwar niemand, aber vielleicht ist das sogar eine der größten Stärken des immerzu schweigsam zuhörenden Tagebuchs.

Was uns – manchen mehr, anderen weniger – zumindest in Ansätzen vertraut erscheint, wird heute als Methode der Psychotherapie und der Selbsthilfe eingesetzt. Als Poesietherapie hilft das Niederschreiben von Erlebtem, Gedachtem und Gefühltem ebenso wie das kreative Schreiben, das freie Schöpfen eigener Narrative, eigener Welten, heute etlichen Menschen bei der Verarbeitung von Trauma, Depression, nie verwundener Vergangenheit und anderen existentiellen Problemen. Dieser Schreibtherapie, die in Deutschland in den letzten Jahren zwar durchaus an Bekanntheit gewonnen hat, aber immer noch fernab des Mainstreams betrieben wird, ist der vorliegende Artikel gewidmet.

Inhalt
1. Expressives Schreiben
2. Kreatives Schreiben
3. Briefe in der Psychotherapie
4. Bibliotherapie
5. Situation der Poesietherapie

Expressives therapeutisches Schreiben: Inneres ausdrücken

Psychotherapien, die sich an Jugendliche und Erwachsene richten, setzen vor allem auf eine Ausdrucksform: das gesprochene Wort. Das mag zunächst einleuchtend erscheinen, ist das Sprechen doch die konventionellste aller Kommunikationsformen – wenngleich sie durch die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters ernstzunehmende Konkurrenz bekommen hat. Wer sich eingehender mit diesem Therapiezugang befasst, wird jedoch schnell merken, dass das Sprechen, so selbstverständlich es uns auch anmuten mag, eine durchaus schwierige Angelegenheit sein kann. Gerade, wenn die Sprache auf Traumatisches kommen soll, gerät sie erst ins Stocken, um dann gänzlich einem tiefen Schweigen zu weichen, das auch mit größter Willenskraft nicht zu durchbrechen scheint. Im Lichte dieses Grundproblems der konventionellen Psychotherapien erscheint das Schreiben als hervorragende Alternative. Das Fehlen eines direkten Gegenübers, das Für-sich-Sein in der Schreibsituation und die Indirektheit der Mitteilung, die sich an niemanden im Speziellen richtet, nehmen den Erwartungsdruck, der in der Eye-to-Eye-Situation der Therapie herrscht. Als Instrument zur Überwindung dieses Problems ist das Schreiben zwar weit entfernt vom Etabliertsein, doch zumindest bekannt und rege genutzt.

Das expressive Schreiben greift die Möglichkeiten des Mit-sich-selbst-Seins der Schreibsituation auf und baut darauf, Geschehenes zu verschriftlichen. James Pennebaker, ein US-amerikanischer Psychologe, kann als Vorreiter auf dem Gebiet der Institutionalisierung des expressiven Schreibens gelten. Im Rahmen einer Studie bat er Studierende, fünfzehn Minuten lang schreibend den Gefühlen und Gedanken nachzugehen, die sie im Innersten trafen. Was zunächst heikel klingen mag, erwies sich als machtvolles Instrument: Verließen viele Studierende den ersten Termin aufgelöst, kamen sie umso bereitwilliger wieder und erwiesen sich nach einiger Zeit als physisch und psychisch gestärkt. In der Kontrollgruppe, in der Studierende sich schreibend für sie belanglosen Themen widmeten, konnten diese Effekte nicht festgestellt werden. Pennebaker folgerte daraus, dass das schreibende Zuwenden zu den problematischsten, traumatischsten und ansonsten gut verborgenen Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen den Studierenden nachhaltig half.

Verwunderlich ist das bei näherer Betrachtung kaum, bietet das Schreiben neben der reinen Mitteilung doch weitere Vorteile, die das gesprochene Wort nicht bieten kann: Was verschriftlicht wird, wird im eigentlichen Wortsinne festgeschrieben (wenngleich auch hier wieder auf die Aufweichung dieses Grundsatzes durch technische Mittel hinzuweisen ist). Gesagtes verschwindet in der Sekunde, in der es ausgesprochen wird, unwiederbringlich. Geschriebenes hingegen verlässt das Innere, um sich in einem Außen festzusetzen. Dieses besondere Faktum der Schriftlichkeit ist im Rahmen einer Schreibtherapie aus mehreren Gründen sehr nützlich.

Zum einen sorgt die Wahl des Mediums Schrift für einen ganz eigenen Zugang zum Gegenstand. Wird der Gegenstand mündlich thematisiert, neigen wir dazu, erst einmal an ihm vorbeizureden – zumal, wenn wir Hemmungen haben, über ihn zu sprechen. Ein eigentliches Vordringen wird so immer wieder vermieden. Können wir uns hingegen einmal dazu durchringen, expressiv zu schreiben, werden wir uns – auch, da wir mit dem Ausgedrückten hier direkt und anhaltend konfrontiert werden – davor hüten, auszuweichen. Schrift, die als unvergänglich konzipiert ist, ist nach wie vor mit einer gewissen Verbindlichkeit verbunden, die die sofort vergangene Mündlichkeit nicht besitzt.

Setzen wir uns im Rahmen des expressiven Schreibens schreibend mit uns selbst auseinander, impliziert die vorausgesetzte Verbindlichkeit der Schrift eine eingehende, intensive Beschäftigung mit dem, was wir für gewöhnlich unter Verschluss halten. Expressives Schreiben meint also auch ein Ringen um Worte, das wiederum auch ein Durchdenken weggedrängter Gedanken, ein Wiederfühlen weggedrückter Gefühle meint. Das wiederum ist bereits an sich heilsam, kann doch nur auf diesem Wege ein Verarbeitungsprozess einsetzen. In der tatsächlichen Verschriftlichung, also im Ausdruck des zuvor im Um-Worte-Ringen Hervorgeholten, Angeordneten und Sortierten, kann dieser dann fortgesetzt werden.

Daneben – und auch daran anknüpfend – ist natürlich auch eine Art Flow-Erleben, in welchem völlig frei assoziiert wird und die Wörter nur so auf das Papier fließen, denkbar. Ein solches ist jedoch nicht wesenhaft an das Medium der Schrift und die Schriftlichkeit mit ihren Besonderheiten gebunden, wenngleich viele Menschen in diesem Medium eher als im gesprochenen Wort in der Lage sind, in einen solchen Fluss einzutauchen – oder eher: sich ihm hinzugeben.

Zum anderen ist Verschriftlichtes, Festgeschriebenes auch nach dem Akt seiner Hervorbringung noch zugänglich. Es lässt sich lesen – wieder und wieder. Dadurch bietet sich eine weitere Möglichkeit des Zugangs zum Ausgedrückten. Das Zu-Papier-Gebrachte ermöglicht einen immer wieder neuen Zugriff, aus dem immer wieder neue Erkenntnisse gezogen werden können. Derjenige, der sein Inneres nach außen getragen hat, erhält durch diese Verschriftlichung die Möglichkeit, sich immer wieder neu ins Verhältnis zum Ausgedrückten zu setzen – und das möglicherweise durch Ergänzungen, Kommentare, Repliken, festgehaltene Korrekturen, neu aufgekommene Gedanken, Deutungsmöglichkeiten und ähnliche Textarbeit deutlich zu machen, womit zugleich die generelle Bearbeitbarkeit des eigentlichen Gegenstandes, also des nach außen getragenen Inneren, bestätigt wird. Das macht die Schreibenden zu Autor*innen und ihnen diesen Umstand bewusst, womit sie sich auch der eigenen Handlungs- und Veränderungsfähigkeit, die erschrieben wird, bewusst werden.

Heute gilt das expressive Schreiben, das letztlich nichts anderes als eine recht intuitive Herangehensweise an zentrale persönliche Probleme ist, als eine der am besten untersuchten Selbsthilfetechniken.

Kreatives therapeutisches Schreiben: Schöpferisch tätig werden

Doch das Niederschreiben von Gedanken, Gefühlen und Geschehenem, für das wir typischerweise Tagebücher verwenden, ist nicht einziger Inhalt der Schreibtherapie. Sie geht über das expressive Schreiben hinaus und wendet sich einer im engeren Sinne kreativen Tätigkeit zu: dem Erschaffen eigener Welten.

Auch bei dieser Tätigkeit, dem im engeren Sinne literarisch-kreativen Schreiben, kann (und soll) eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart, mit dem eigenen Selbst, den eigenen Problemen, Traumata, Gedanken und Herausforderungen stattfinden. Dabei müssen keineswegs große literarische Werke entstehen. Das ist zwar durchaus möglich; es ist aber genauso legitim, die Gedanken frei assoziierend treiben zu lassen. Ziel dieser Art des therapeutischen Schreibens ist dennoch das Ordnen des Geschriebenen, das auch das Gedachte ist: Letztlich soll aus den losen Gedanken, den zu Papier gebrachten Verletzungen und den ausgedrückten Gefühlen ein konsistentes Narrativ entstehen. Als solches ist es geschlossen und auf irgendeine Weise geordnet.

Die Poesietherapie kann also auch als Möglichkeit verstanden werden, ein Gegennarrativ zu dem des willkürlich verlaufenden faktischen Lebens zu schaffen – eines, in dem alles sinnvoll (oder: gewollt) geordnet ist und das damit weitaus besser verarbeitet werden kann. Was nach bloßer Flucht in eine Art Fantasiewelt klingt, ist dabei ein genuin menschliches Moment: Auch Mythen erzählen letztlich schlicht Ordnung, die einer ungeordneten, sinnlosen Welt, in der der Mensch sich vorfindet, entgegengestellt wird.

Wie ein solches Narrativ aussehen kann, ist dabei höchst individuell, handelt es sich beim kreativen Schöpfen doch um einen der individuellsten, subjektkonzentriertesten Akte überhaupt. Vom Verfassen eines alternativen Endes, das einem tatsächlich erlebten schmerzvoll-ungeordneten Ende entgegentreten kann, über die literarische Reflexion des Geschehenen, Gedachten und Gefühlten bis hin zur destruktiven Nacherzählung ist alles möglich.

Letztere (und vielleicht auch die davor genannte bloße Reflexion) scheint dabei der These des sinnvollen Ordnens im kreativen Schreiben entgegenzustehen: Wie sollte das destruktive Nacherzählen einer zutiefst schmerzhaften Erfahrung oder das bloße Darstellen einer existentiellen Hilflosigkeit zu einem Gegennarrativ führen können? Die Antwort ist einfach: Nun liegt dieser Art der Erzählung eine bewusste Entscheidung zugrunde. Wer sich für die Unordnung und die Destruktivität entscheidet, ist ihr nicht mehr unterworfen, sondern steht über ihr. In der literarischen Darstellung des eigenen Leidens kann also auch eine Selbstbemächtigung gesehen werden: Das Narrativ, in das wir geworfen sind, machen wir durch seine Literarisierung zu unserem eigenen.

Was dabei bereits durchklingt: Der Begriff des Gegennarrativs ist in Ermangelung eines besser passenden gewählt worden und nicht unbedingt wörtlich zu verstehen. Direkte Gegennarrative als Alternativen zu dem tatsächlich Erlebten sind zwar möglich; ebenso sind es aber auch die erwähnten Nacherzählungen, Reflexionen oder abstrakten Thematisierungen des Gedachten und Gefühlten. All diese Ausdrucksformen können im weitesten Sinne als Narrative verstanden werden: Sie erzählen etwas. Zum Gegennarrativ werden sie, ebenfalls in weitester Begriffsauslegung, dadurch, dass wir sie im schöpferischen Prozess selbst gewollt und bewusst hervorbringen. Im Grunde bedeutet das, dass in der Schreibtherapie die bisher der Kontingenz Unterworfenen, die diesen Seinsumstand als schmerzvoll erlebt haben, zu Selbst-Schöpfenden und damit Über-Narrative-Entscheidenden werden. Sie verlassen ihre passive Rolle des leidvollen Unterworfenseins und treten ein in die des aktiven Schöpfens. Somit ist jedes Narrativ, das bewusst geschaffen wird, als Gegennarrativ zu all den vielen, denen gegenüber wir uns als ausgeliefert erleben, zu verstehen.

Dieses Verständnis der Poesietherapie öffnet die Türen zu weiten Möglichkeiten: Im Grunde kann jede Form des kreativen Schreibens eine therapeutische Wirkung entfalten, gibt sie den Schreibenden doch die Kontrolle zurück, die sie mitunter für verloren halten.

Der Brief als Therapieinstrument

Integriert ist eine besondere Form der Schreibtherapie bereits heute: Briefe werden in vielen Psychotherapien geschrieben. Besonders im Rahmen von Trauerarbeit und Traumatherapie wird heute mit dem Brief als Therapiemittel gearbeitet. Die Intention hinter diese Methode ist eindeutig: Das Schreiben eines Briefs gibt uns die Chance, uns an einen Menschen zu richten, an den wir uns eigentlich nicht mehr richten können oder aus irgendwelchen Gründen besser nicht direkt richten sollten. In dieser Funktion lindert das Schreiben das Leid des Nicht-(mehr)-mitteilen-Könnens.

Neben dieser besonderen Form der (Nicht-)Kommunikation kann der therapeutische Brief weitere Funktionen erfüllen. Einmal bietet er – ganz im Sinne des expressiven Schreibens – die Möglichkeit, uns ausführlich, geordnet und überlegend unseren eigenen Gefühlen und Gedanken zu widmen. Wir gießen all das, was uns belastet und mitunter diffus unser Denken und Handeln lähmt, in eine strukturierte Form.

Ein weiterer zentraler Punkt besteht darin, dass der Brief gewissermaßen ein alternatives Ende des unbefriedigend, ungeordnet und vielleicht ungewollt oder zumindest anders als gewollt abgeschlossenen Narrativs schaffen kann: Im Schreiben an einen Menschen, der uns verletzt und verlassen hat oder gestorben ist, können wir ein wenig Kontrolle über die Situation zurückerlangen, indem wir ein für uns befriedigenderes oder erträglicheres Ende der wie auch immer gearteten Beziehung schaffen.

Ganz egal, welche Funktion der Brief in einer konkreten Therapiesituation erfüllen soll – abgeschickt wird er nicht. Schließlich soll er gerade nicht zum Wiederaufreißen noch nicht ganz verheilter Wunden führen oder den*die Verfasser*in ins Chaos stürzen, sondern eine Möglichkeit des schreibenden Wiederaufrichtens, des schreibenden Korrigierens und Nachholens oder des schreibenden Zum-Abschluss-Bringens bieten.

Therapeutisches Lesen: Die Bibliotherapie

Eng verbunden ist die Poesietherapie, das therapeutische Schreiben, mit der Bibliotherapie, dem therapeutischen Lesen. Auch hier kann auf die Intuitivität des Verfahrens verwiesen werden: Das Ausweichen in literarische Welten, das Sich-wiederfinden-Wollen in diesen Welten und in fiktiven Charakteren aber auch die Suche nach Reflexionen anderer, etwa in philosophischen Werken, wird durchaus auch zum Zwecke oder im Rahmen einer wohltuenden Selbstzuwendung betrieben. In der professionellen Bibliotherapie werden die zu lesenden Werke von den Therapeut*innen individuell zusammengestellt. Den Hilfesuchenden soll durch die und in der Literatur eine Identifikationsmöglichkeit, eine Anregung oder irgendetwas anderes – und sei es Trost – geboten werden.

Bibliotherapie wird dabei nicht nur im Rahmen einer integrierten Poesie- und Bibliotherapie, sondern auch im Rahmen anderer Psychotherapien angeboten. Hier kann – wenngleich das sicher nicht die Idealform der Bibliotherapie ist – an die psychoedukative Literatur gedacht werden, die Patientinnen und Patienten mitunter zur sachlich-neutralen Aufklärung über ihr Leiden erhalten. Ferner kann jede therapeutische Leseempfehlung als Form der Bibliotherapie verstanden werden. Thematisiert wird ein solches Vorgehen beispielsweise beim Psychoanalytiker und Schriftsteller Irvin D. Yalom im Buch „Denn alles ist vergänglich“, in welchem „Geschichten aus der Psychotherapie“, so der Untertitel, erzählt werden.

Die Situation der Schreibtherapie in Deutschland und international

In Deutschland fristet die Poesietherapie selbst ein Schattendasein, wenngleich einige ihrer Elemente auch in etablierten Psychotherapien durchaus zur Anwendung kommen. Eine geregelte Ausbildung für Schreibtherapeut*innen gibt es hierzulande ebenso wenig wie eine allgemeine Anerkennung der Therapieform. Dieses Schattendasein teilt die Schreibtherapie mit anderen kreativen Therapien wie der Musik- oder Tanztherapie. Dennoch gibt es Versuche, Schreib- und Lesetherapie zu etablieren. So existiert etwa die Deutsche Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie, die Zertifikatslehrgänge anbietet. Gegründet wurde diese Gesellschaft von Hilarion Petzold und Ilse Orth, die ebenso wie Silke Heimes treibende Kräfte der Etablierung der Poesietherapie in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum sind.

In einigen anderen Ländern präsentiert sich eine ganz andere Situation: In den USA ist das therapeutische Schreiben neben anderen Kreativtherapien etabliert und kommt im Rahmen der Behandlung psychischer Erkrankungen weithin zum Einsatz. Auch in Großbritannien ist die Poesie- und Bibliotherapie weitgehend etabliert.

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