Forensische Linguistik

Forensische Linguistik

Bei der forensischen Linguistik handelt es sich um ein interdisziplinäres Fachgebiet, in dessen Rahmen sprachwissenschaftliche Konzepte und Methoden auf juristische Fragen und das Rechtssystem angewendet werden. Die forensische Linguistik befasst sich mit Themen wie der Authentizität und Urheberschaft von geschriebenen oder gesprochenen Texten. Sie dient der Analyse von Sprache und Schrift in juristischen Kontexten und im Zusammenhang mit Straftaten. Dabei bezieht die forensische Linguistik Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Neurologie ein. Darüber hinaus wird sie bei der Interpretation von Rechtssprache angewandt.

Geschichte der forensischen Linguistik

Die forensische Linguistik ist ein relativ junges Fachgebiet und blickt als akademische Disziplin auf eine verhältnismäßig kurze Geschichte zurück. Doch die Ursprünge der forensischen Linguistik lassen sich bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Jahr 1911 fand eine der ersten Gerichtsverhandlungen statt, für die dokumentiert ist, dass ein Linguist offiziell als Sachverständiger auftrat. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Verwendung von linguistischen Beweisen in Rechtsfällen immer häufiger, so dass sich die forensische Linguistik im späten 20. Jahrhundert allmählich etablierte.

Der Fall John Evans

Der Begriff der forensischen Linguistik tauchte erstmals 1968 auf. Der schwedische Sprachwissenschaftler Jan Svartvik veröffentlichte in diesem Jahr seine Studie The Evans Statements. A Case for Forensic Linguistics. Svartvik hatte zuvor Protokolle von Aussagen analysiert, die dem bereits verurteilten britischen Mörder Timothy John Evans zugeschrieben wurden. Die Aussagen wiesen stilistisch auffällige Unterschiede auf. Tatsächlich stellte sich heraus, dass eine der Aussagen von einem Polizisten entgegen geltendem Recht umgeschrieben worden war, was die Authentizität sämtlicher Protokolle in Frage stellte. John Evans wurde aufgrund von Svartviks Analyse postum freigesprochen. Dieser Fall war damit nicht nur der erste, in dessen Zusammenhang der Begriff der forensischen Linguistik auftauchte. Er ist auch einer der bedeutendsten Kriminalfälle für diese Disziplin.

Forensische Linguistik als Studienbereich

Die formale Etablierung der forensischen Linguistik als Disziplin lässt sich bis in die 1970er-Jahre zurückverfolgen. Zu dieser Zeit begannen einige Linguist*innen und Rechtswissenschaftler*innen, die potenziellen Anwendungsmöglichkeiten der linguistischen Analyse in juristischen Zusammenhängen zu erforschen. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde das Fach schließlich als eigenständiger Studienbereich anerkannt. Seither ist die forensische Linguistik eine Unterdisziplin der angewandten Linguistik. Infolgedessen wurden akademische Programme, Zeitschriften und Berufsverbände gegründet, die sich mit den unterschiedlichen Themen der forensischen Linguistik befassen.

Forensische Linguist*innen verfügen in der Regel über einen fundierten Hintergrund in Linguistik, Rechtswissenschaft, forensischer Wissenschaft oder in einem verwandten Bereich. Die konkreten Anforderungen an die Ausbildung von forensischen Linguist*innen können abhängig von Beruf oder Branche variieren.

Forensische Linguistik: Themenfelder und Methoden

In den letzten Jahrzehnten hat sich die forensische Linguistik stetig weiterentwickelt. Sie umfasst mittlerweile ein breites Spektrum an Themen und Techniken. Diese reichen von der Analyse der Urheberschaft und Authentizität schriftlicher Texte über die Interpretation von Rechtssprache bis hin zum Einsatz der Linguistik bei der Untersuchung von schweren Straftaten. Und so arbeiten forensische Linguisten heute in einer Vielzahl von Einrichtungen. Dazu gehören nicht nur akademische Institutionen, sondern auch Regierungsbehörden und private Unternehmen.

Forensische Linguist*innen werden insgesamt als Expert*innen in unterschiedlichsten Rechtsfällen, so bei strafrechtlichen Ermittlungen oder Streitigkeiten um Urheberrecht und geistiges Eigentum, zu Rate gezogen. Dabei liefern sie unparteiische Analysen und Aussagen zu Fragen im Zusammenhang mit Sprache und Recht. Zudem können sie an der Entwicklung neuer Technologien und Methoden für die Analyse von Sprache in juristischen Zusammenhängen beteiligt sein.

Teilbereiche der forensischen Linguistik im Überblick

Zuweisung von Autor*innenschaft

Dieses Teilgebiet der forensischen Linguistik befasst sich mit der Analyse von geschriebenen oder gesprochenen Texten, um Autor*in oder Sprecher*in eines Textes zu ermitteln. Es handelt sich um einen Kernbereich der forensischen Linguistik. Dabei geht es nicht nur um den Nachweis einer Autor*innenschaft im Sinne des Urheberrechts – beispielsweise im Rahmen eines Plagiats. Es geht auch um die Analyse und Zuordnung von Drohbriefen, Erpresser*innenbriefen, Bekenner*innenschreiben, Testamenten oder Abschiedsbriefen im Rahmen einer Selbsttötung.

Übrigens: Im Sinne der Zuweisung von Autor*innenschaften sieht manch eine*r bereits in der Antike Ansätze einer forensischen Linguistik, wenn die Autor*innenschaft von Dramen infrage gestellt wurde. Erste Versuche, bestimmte Methoden zur Feststellung der Autor*innenschaft zu entwickeln, wurden allerdings erst im 19. Jahrhundert unternommen. Diese Methoden basierten auf Untersuchungen der durchschnittlichen Wort- und Satzlänge und ähnlicher Eigenschaften. Damit haben sie wenig mit Forensik oder Linguistik im heutigen Sinne zu tun.

Forensische Phonetik

Dieser Teilbereich befasst sich mit der Analyse von Sprachmustern und akustischen Eigenschaften, mit deren Hilfe Sprecher*innen identifiziert werden können und zwischen authentischer und gefälschter Sprache unterschieden werden kann. Oder anders ausgedrückt: Es geht vor allem um Sprecher*innenvergleiche. Die forensische Phonetik kommt beispielsweise zum Einsatz, wenn eine Stimme einer Person zugeordnet werden soll, bei der Interpretation strittiger Äußerungen oder bei der Erstellung einer Stimm-Gegenüberstellung. Die forensische Phonetik ist ein weiteres Hauptfeld der forensischen Linguistik. Sie weist Überschneidungen mit der Autor*innenermittlungen auf, insofern diese sich auf gesprochene Texte bezieht, geht jedoch über diese hinaus.

Bedeutungsanalyse

Linguist*innen werden vor Gericht darüber hinaus als Gutachter*innen bestellt, um Bedeutungsanalysen von Wörtern, Sätzen oder längeren Texten durchzuführen. Häufig geht es hierbei darum, ob eine Äußerung in einem bestimmten Kontext als Beleidigung, Bedrohung usw. gewertet werden kann oder nicht.

Beantwortung mehrsprachiger und kulturübergreifender Fragen

Die Methoden der forensischen Linguistik kommen auch dann zum Einsatz, wenn sich Schwierigkeiten bei der Durchführung von Sprachanalysen in mehrsprachigen und kulturübergreifenden juristischen Kontexten ergeben.

Von Stilometrie bis Korpusanalyse – die Methoden der forensischen Linguistik

Im Rahmen der Analysen im Sinne einer forensischen Linguistik kommen verschiedene Methoden zum Einsatz. Dazu gehören Stilometrie, linguistische Diskursanalyse, Methoden der Phonologie und der Korpuslinguistik. Die Methoden werden häufig in Kombination angewendet.

Die Stilometrie analysiert den Sprachstil eines*r Autor*in anhand verschiedener Merkmale wie Wortwahl, Satzbau, Interpunktionsmuster und anderen stilistischen Merkmalen. Diese Methode kann verwendet werden, um die Identität des*r Autor*in von Texten zu bestimmen.

Die linguistische Diskursanalyse beschäftigt sich mit der Untersuchung von Sprachgebrauch in sozialen Kontexten. In der forensischen Linguistik kann dies bedeuten, dass die Analyse von aufgezeichneten Gesprächen und Interviews verwendet wird, um die Intentionen, Überzeugungen und Einstellungen der Teilnehmer*innen zu bestimmen, die an einer kriminellen Handlung beteiligt sind.

Die Phonologie befasst sich allgemein mit der Untersuchung der Klänge einer Sprache. In der forensischen Linguistik werden phonologisch orientierte Methoden verwendet, um beispielsweise Stimmaufnahmen oder Voicemail-Nachrichten zu analysieren und um festzustellen, ob eine Person eine bestimmte Aussage gemacht hat oder nicht.

Mit Hilfe der Korpuslinguistik können große Textmengen untersucht werden, um sprachliche Muster und Tendenzen zu erkennen. Es handelt sich dabei um ein statistisches Analyseverfahren. Diese Methode kommt beispielsweise zum Einsatz, um die Frequenz und Verwendung bestimmter Wörter und Phrasen in Texten zu bestimmen, die als Beweismittel in einem Gerichtsverfahren verwendet werden.

Forensische Linguistik vs. Rechtslinguistik

Im deutschsprachigen Raum wird die forensische Linguistik von der Rechtslinguistik unterschieden. In anderen Ländern ist das nicht der Fall. Dabei bezieht sich die forensische Linguistik auf die Verwendung von linguistischen Techniken, um Fragen im Zusammenhang mit Rechtsfällen zu klären. Die Teilbereiche Zuweisung der Autor*innenschaft und die forensische Phonetik fallen daher unter die forensische Linguistik.

Die Rechtslinguistik bezieht sich hingegen auf die sprachliche Analyse von Gesetzen, Verträgen, Gerichtsurteilen und anderen Rechtsdokumenten. Hier geht es also um die Untersuchung von rechtlichen Texten und um die Frage, wie Sprache im Rechtswesen eingesetzt wird. Die Rechtslinguistik untersucht dabei zum Beispiel, wie präzise und eindeutig Rechtsdokumente formuliert sind und ob es zu Missverständnissen kommen kann. Die genannten Teilbereiche der Auslegung der Rechtssprache und der juristischen Diskurs- und Genreanalyse sind im DACH-Raum daher der Rechtslinguistik zuzuordnen.

Zusammengefasst: Die forensische Linguistik ist tendenziell darauf ausgerichtet, sprachliche Beweise in Gerichtsverfahren zu analysieren, während die Rechtslinguistik die Sprache des Rechtswesens analysiert und untersucht, wie diese Sprache in der Praxis eingesetzt wird.

Rechtslinguistik: Auslegung der Rechtssprache

Dieser Teilbereich der Rechtslinguistik untersucht die Verwendung von Sprache im Rechtssystem. Gesetzestexte und die Fachsprache des Personals und der Expert*innen im Rechtssystem werden analysiert. Auch historische Aspekte der Rechtssprache kommen in diesem Teilgebiet zum Tragen. Ein Ziel des Teilgebietes ist es, die Sprache des Rechtssystems auf ihre Verständlichkeit hin zu prüfen.

Rechtslinguistik: Linguistische Diskursanalyse im Rechtsbereich

Wie wird gesprochene Sprache in juristischen Kontexten verwendet? In diesem Teilgebiet der Rechtslinguistik geht es unter anderem um sprachwissenschaftliche Betrachtungen von Vorgängen in Gerichtssälen. Aber auch die Sprache bei Notrufen und polizeilichen Befragungen wird analysiert. Ein weiteres Thema ist der sprachliche Umgang mit Opfern von Verbrechen und mit besonders sensiblen Zeug*innen wie Kindern.
Im Zusammenhang mit diesem Teilbereich gibt es in der US-amerikanischen Literatur beispielsweise zahlreiche Studien zum Umgang mit Minderheiten vor Gericht im Sinne einer sprachlichen Benachteiligung.

Kritik und Grenzen

Wie jeder Bereich ist auch die forensische Linguistik nicht frei von Kritik und Herausforderungen. So wird vor allem ein Mangel an standardisierten Verfahren hinterfragt. Verschiedene Expert*innen wenden zum Teil unterschiedliche Methoden und Ansätze an. Des Weiteren wird die schwache wissenschaftliche Grundlage ebendieser Methoden bemängelt. Kritiker*innen meinen, dass die angewandten Methoden der forensischen Linguistik nicht auf fundierten wissenschaftlichen Grundsätzen basieren und keine strenge Validierung erfahren haben. Daraus ergibt sich nach Meinung der Kritiker*innen eine Subjektivität der Analyse. Der forensischen Linguistik wird vorgeworfen, dass die Ergebnisse einer Analyse zu stark von der Interpretation des*r Analytiker*in abhängen. Daher wird die Verwendung von linguistischen Beweisen in juristischen Zusammenhängen vor Gericht des Öfteren angefochten.

Der forensischen Linguistik wird zum Teil auch Voreingenommenheit und Diskriminierung vorgeworfen. Es wird kritisiert, dass die forensische Sprachanalyse dazu verwendet werden kann, Vorurteile und Diskriminierung im Rechtssystem aufrechtzuerhalten, indem durch Typisierungen Vorurteile manifestiert werden, wenn beispielsweise bestimmte umgangssprachliche Sprechweisen Menschen mit bestimmtem Bildungsgrad zugewiesen werden.

Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist die forensische Linguistik ein wachsender Bereich der Sprachwissenschaft, der umfassende Einblicke in ein breites Spektrum von rechtlichen Fragen und Herausforderungen bietet. Um den Kritikpunkten zu begegnen, arbeiten Linguist*innen daran, die wissenschaftliche Korrektheit und die Transparenz des Fachgebiets zu verbessern. Sie versuchen, neue und zuverlässigere Methoden für die sprachwissenschaftliche Analyse in juristischen Kontexten zu entwickeln.

https://www.thetext.co.uk/Evans%20Statements%20Part%201.pdf (Zugriff am 18.02.2023)
https://www.bmi.gv.at/104/Wissenschaft_und_Forschung/SIAK-Journal/SIAK-Journal-Ausgaben/Jahrgang_2013/files/Fobbe_4_2013.pdf (Zugriff am 18.02.2023)
https://www.bmi.gv.at/104/Wissenschaft_und_Forschung/SIAK-Journal/SIAK-Journal-Ausgaben/Jahrgang_2021/files/Fobbe_4_2021.pdf (Zugriff am 18.02.2023)
Obermoser, Frauke: Möglichkeiten und Grenzen der Forensischen Linguistik: Interdisziplinarität bei der Untersuchung forensisch-linguistischer Texte mit besonderer Beachtung der Themenschwerpunkte Kriminalistik, Rechtswissenschaften und forensische Schriftvergleichung. Dissertation, Innsbruck, 2015. https://diglib.uibk.ac.at/ulbtirolhs/download/pdf/491926?originalFilename=true (Zugriff am 18.02.2023)