Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache

Herder Abhandlung über den Ursprung der Sprache

Johann Gottfried Herder hat im Jahr 1769 mit seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache auf ein Preisausschreiben der Berliner Akademie der Wissenschaften geantwortet und den Theoriewettbewerb letztlich gewinnen können. In der Folge entfaltete die Schrift des Theologen eine enorme Wirkung. So brach sie mit der Vorstellung einer gottgegebenen Sprache und verband die Frage nach dem Ursprung der Sprache mit der nach dem menschlichen Wesen. Herders Abhandlung steht insgesamt ganz im Zeichen der Aufklärung und fokussiert den menschlichen Verstand und seine Freiheit als Kernmomente, die ihn von anderen Wesen unterscheiden – und aus denen letztlich seine Sprache resultiert. Herders Ausführungen gelten heute zwar als deutlich zu spekulativ und in weiten Teilen unplausibel. Nichtsdestotrotz lassen sie sich an vielen Stellen jedoch an aktuelle Sprachdiskurse anschließen, was auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass nachfolgende Sprachtheorien nicht selten in Auseinandersetzung mit Herder oder mit kritisch auf ihn referierenden Autor*innen entstanden sind.

Sprachursprungstheorie: Süßmilch, Condillac und Herder

In seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache setzt Herder sich zunächst mit zwei anderen Sprachursprungstheorien auseinander, die er für fehlerhaft hält. Hierbei handelt es sich um die Theorien Étienne de Condillacs und Johann Peter Süßmilchs. Süßmilch entwickelte seine Theorie seinerseits in Auseinandersetzung mit den Thesen Condillacs. Herder greift in seiner Abhandlung nun beide Ausführungen auf, um sie zu widerlegen und ausgehend von diesem Punkt seine eigenen Gedanken zum Ursprung der Sprache zu entwickeln. Für das Verständnis der Sprachtheorie Herders ist daher ein Wissen um Condillacs und Süßmilchs Thesen nötig.

Condillac geht davon aus, dass zwischen tierischer und menschlicher Sprache bloß Stufenunterschiede bestehen. In seiner Theorie beschreibt er mehrere Stufen der Sprachentwicklung, auf der unterschiedliche Spezies verortet werden können. Auf der untersten Ebene finden sich Laute und Bewegungen, die mit dem Gefühl, das sie hervorbringt, verbunden sind – etwa Schmerzens- oder Freudenschreie. Hieraus entwickelt sich laut Condillac eine durch Schreie untermalte Gebärdensprache und letztlich im Rahmen weiterer Abstraktion eine durch Konventionen entstehende willkürliche Benennung, die sich als Laut- gegenüber der Gebärdensprache durchsetzt.

Süßmilch setzt hier an und kritisiert Condillac harsch: Die menschliche Sprache sei deutlich zu komplex, um sich aus tierischen Vorformen und bloßen Empfindungsäußerungen entwickelt zu haben. Aufgrund ihrer Komplexität – so Süßmilch – sei ausschließlich ein göttlicher Ursprung der Sprache denkbar. Sein Standpunkt ist damit dem der Intelligent-Design-Lehre sehr ähnlich – und ebenso unhaltbar.

Herder wiederum schließt sich Süßmilchs Kritik an Condillac insofern an, als er die menschliche Sprache für zu komplex hält, um aus reinem „Geschrei der Empfindungen“ (S. 26) hervorgegangen zu sein. Er reichert dieses Argument um eine anthropologische These an: Der Unterschied zwischen Mensch und Tier „ist nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte“ (S. 21). Soll heißen: Mensch und Tier sind grundlegend verschieden, weshalb zwischen ihren Sprachformen, dem reinen „Geschrei der Empfindungen“ (S. 26) der Tiere und der komplexen, reflektiert-differenzierten menschlichen Sprache, kaum Gemeinsamkeiten bestünden. Diese grundlegende Verschiedenheit versucht Herder über den Verweis auf die Instinktbegabung der Tiere und die Instinktfreiheit der Menschen zu begründen. Dieser Punkt soll im zweiten Abschnitt des vorliegenden Artikels genauer betrachtet werden.

Süßmilchs Lösung, die Sprache als von Gott gegeben zu verstehen, schließt Herder sich jedoch nicht an. In diesem Zusammenhang verweist er vor allem auf einen Widerspruch in Süßmilchs Ausführungen. So behauptet dieser, zum Gebrauch der Vernunft sei der Gebrauch der Sprache nötig. Da jedoch Vernunft benötigt wird, um eine Sprache von Gott lernen zu können, muss Süßmilchs eigener Prämisse folgend schon vor der Sprachschenkung durch Gott Sprache vorhanden sein – andernfalls könnte der Mensch seine Vernunft nicht nutzen und nicht von Gott lernen. Süßmilch widerspricht sich also selbst, was seine Theorie diskreditiert.

Abhandlung über den Ursprung der Sprache: Der Mensch als Mängelwesen

Weder Condillac noch Süßmilch konnten – so Herders Perspektive – zeigen, woher die menschliche Sprache stammt. Seine eigene Theorie versteht Herder als eine Art sprachanthropologische Untersuchung: Er möchte über die Erkundung des Wesens des Menschen den Ursprung der Sprache ergründen. Ein großer Teil seiner Abhandlung ist daher der Frage nach dem Menschen gewidmet: Was macht ihn aus? Was unterscheidet ihn von den Tieren?

Herder stellt zunächst fest, dass beide eine rudimentäre Sprache teilen. So drücken sowohl Tiere als auch Menschen ihre Empfindungen in unwillkürlichen Lautäußerungen aus. Hier enden die Gemeinsamkeiten laut Herder jedoch bereits. Den Hauptunterschied macht er in den Instinkten der Tiere gegenüber der Instinktlosigkeit des Menschen aus. Aufgrund ihrer Instinkte sind die Tiere in der Lage, ihr beschränktes Tun in ihrem beschränkten Wirkbereich zur Perfektion zu bringen. Als Beispiele nennt Herder etwa den Bau einer Honigzelle durch eine Biene oder den Netzbau einer Spinne. Der Mensch hingegen ist frei von Instinkten und kann in keinem seiner Wirkbereiche die Perfektion der Biene oder der Spinne erreichen. Gegenüber den Tieren erscheint er daher als Mängelwesen.

Gewissermaßen als Ausgleich dieses Mangels ist der Mensch anders als die Tiere nicht auf einen bestimmten Wirkbereich beschränkt. Während die Spinne etwa ausschließlich Netze weben kann, kann der Mensch sich in vielen Dingen üben. Ferner steht es ihm aufgrund dieser Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Lebensumstände frei, über sich selbst zu bestimmen. Er wird zwar in keinem Bereich seines Lebens die Perfektion des instinktgeleiteten Tieres in seiner Spezialnische erreichen; dafür jedoch ist er nicht beschränkt auf einen einzigen Bereich. Herder zeichnet damit ein ambivalentes Bild des Menschen. Er ist den Tieren gegenüber sowohl mangelhaft als auch gerade aus diesem Grund Souverän seines eigenen Lebens, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet.

Diese grundlegende Freiheit macht es dem Menschen möglich, über sein eigenes Handeln und Wollen zu reflektieren. Anders als die Tiere muss er entscheiden, was er tun will – und darüber nachdenken. Seine (Re-)Aktionen sind nicht als Instinkte einprogrammiert, sondern entspringen der Reflexion. Diese Fähigkeit bezeichnet Herder als Besonnenheit.

Besonnenheit und Sprache

Diese Besonnenheit wiederum versteht Herder als Ursache der Sprachschöpfung des Menschen: „Der Mensch in einen Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden“ (S. 23). Die Erfindung der Sprache ist damit eine Notwendigkeit. Da der Mensch qua Mensch besonnen ist und die Besonnenheit, wenn sie zu wirken beginnt, Sprache schafft, muss der Mensch Sprache schaffen. Herder dazu: „Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, da er ein Mensch ist“ (S. 24). Doch wie genau entspringt der Besonnenheit die Sprache?

Herder versteht den Prozess der Sprachschöpfung als dreischrittig: Geistige Merkmalsbildung, Absonderung der Merkmale und Nutzung dieser Merkmale als Zeichen folgen aufeinander. In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache illustriert Herder diesen Dreischritt am Beispiel eines Schafes. Herder zufolge nimmt der Mensch das Schaf wahr, macht sein auffälligstes Merkmal, das Blöken, aus, trennt dieses Merkmal geistig vom Schaf und nutzt es in der Folge als Zeichen für das Schaf.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass Herder die Funktion der Zeichen nicht primär als kommunikative versteht. Die so gebildeten Zeichen, die in ihrer Gesamtheit die Sprache darstellen, dienen vielmehr der Orientierung in der Welt. Mit ihnen ist es dem Menschen möglich, Dinge wiederzuerkennen und einzuordnen. Sie strukturieren sein Denken. Ob sie nach außen geäußert und zur Kommunikation verwendet werden, ist für Herder unerheblich. Damit wird der Prozess der Sprachschöpfung zu einem individuellen: Jeder Mensch schafft seine eigene Sprache, die ihm die Welt auf eine je individuelle Weise erschließt.

Herder illustriert das am Beispiel eines stummen Einsiedlers, der niemals mit anderen Menschen in Kontakt kommt. Auch dieser Einsiedler verfügt nach Herder über eine Sprache, da auch er als Mensch besonnen ist und daher zur Merkmalsbildung, -absonderung und darauffolgend zur Zeichenkonstruktion fähig. Die Sprachen der einzelnen Menschen können sich damit deutlich voneinander unterscheiden, was einerseits daraus resultiert, dass sie die Welt anders wahrnehmen, und andererseits in der Folge eine je unterschiedliche Erschließung der Welt, die schließlich durch die individuell gebildeten Zeichen strukturiert wird, bedingt.

Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache und die Sprachphilosophie

Herders in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache geäußerte Thesen lassen sich damit insgesamt an vielen Stellen an Diskurse der Sprachphilosophie wie der modernen Sprachtheorie anknüpfen. Mit seinem Verständnis der Sprache als qua Mensch gegeben steht er dem Nativismus Chomskys nahe, der davon ausgeht, dass es sich bei der Sprache nicht um eine durch äußere Umstände erworbene, sondern um eine angeborene Fähigkeit handelt. Darüber hinaus lassen sich Parallelen zum Kognitivismus feststellen, da Sprache bei Herder Medium der Welterschließung und damit letztlich der Informationsverarbeitung ist. Ferner bestehen Anknüpfungspunkte an die Theorie der sprachlichen Relativität: Herder geht davon aus, dass jeder Mensch seine eigene Sprache schafft, was nicht nur aus einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Welt resultiert, sondern auch auf diese rückwirkt.

Kritik an Herders Sprachursprungstheorie

Nichtsdestotrotz gelten Herders Ausführungen zum Ursprung der Sprache als veraltet. Zurückzuführen ist das primär darauf, dass seine Thesen hochgradig spekulativ sind. Insbesondere seine anthropologisch-metaphysischen Ausführungen zum Unterschied von Menschen und nicht-menschlichen Tieren sind unplausibel. So halten weder die Aussage der Instinktfreiheit des Menschen noch die des Instinktdeterminismus der nicht-menschlichen Tiere einer empirischen Überprüfung stand. Sie sind jedoch notwendige Vorbedingungen aller weiteren Ausführungen in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Neuere Forschungen und Ansätze deuten ganz im Gegenteil darauf hin, dass die Grenze zwischen Mensch und Tier keine natürliche Gegebenheit, sondern ein reines soziales Konstrukt ist, das sich bei unvoreingenommener Prüfung vorhandener empirischer Evidenzen kaum überzeugend erhalten lässt. Ferner steht hinter der Annahme einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Menschen und anderen Tieren notwendig die metaphysische Annahme einer differierenden Essenz. Dass eine solche ihrerseits bloße Spekulation ist, hat Judith Butler am Beispiel der Idee eines essenzhaft gegebenen Geschlechts darlegen können. Das Festhalten an einer solchen Essenzmetaphysik erscheint daher als Herrschaftsmechanismus, der die Repression nicht-menschlicher Tiere durch den Menschen legitimieren soll. Herder reiht sich mit seinen Thesen zum Mensch-Tier-Verhältnis eindeutig in die Reihe der Vertreter*innen derartiger Perspektiven ein.

Darüber hinaus stellt sich hinsichtlich der Ausführungen zum Verhältnis von Besonnenheit und Sprache die Frage, wie die Sprachschöpfung durch Besonnenheit ohne bereits existierende Sprache denkbar ist. Hierbei handelt es sich um ein grundlegendes Problem jeder Sprachursprungstheorie, die nicht von einer angeborenen Sprache ausgeht, auf das bereits Jean-Jacques Rousseau hingewiesen hat. Herder kann dieses nicht lösen; seine Ausführungen deuten jedoch darauf hin, dass er eine Gleichursprünglichkeit annimmt und Denken und Sprache in letzter Konsequenz als einen einzigen gemeinsamen Prozess versteht. Das würde das Problem der gegenseitigen Bedingtheit von Sprache und Denken zwar lösen, jedoch mit dem konventionellen Verständnis von chronologisch ausgerichteter Kausalität brechen.

Alle Zitate aus:
Herder, Johann Gottfried (2005): „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“. In: Heintel, Erich (Hrsg.): Johann Gottfried Herder. Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften. Hamburg. S. 1-88.