Das Gehirn als Computer? Theorie und Menschenbild des Kognitivismus

Theorie und Menschenbild Kognitivismus

Neben Behaviorismus und Konstruktivismus stellt der Kognitivismus die dritte große Schule der Lerntheorien dar. Hinsichtlich der Wirkmacht seiner Arbeiten in pädagogischen und psychologischen Arbeits- und Anwendungsfeldern steht er den beiden anderen zentralen Theorien dabei in nichts nach. In der allgemeinen Vorstellung des menschlichen Geistes und in der Anwendung vor allem im unterrichtlichen Kontext nimmt der Kognitivismus bis heute eine beherrschende Stellung ein. Doch von welchen Annahmen geht er aus und wie sieht das kognitivistische Menschenbild aus? Welche Vorstellung vom Geist, vom Menschen und von seiner Interaktion mit der Umwelt haben Kognitivist*innen? Und was bedeutet das für die Anwendungsfelder ihrer Theorie(n)?

Kognitivismus und Computer: Das Gehirn als Informationsverarbeitungsmaschine?

Die kognitivistischen Theorien entstanden größtenteils in Absetzung von den zuvor die wissenschaftliche Psychologie zunehmend dominierenden behavioristischen Annahmen. Während der Behaviorismus den Menschen im Rahmen einer reinen Reiz-Reaktions-Theorie verstehen will und deshalb bloß Input und Output betrachtet, legt der Kognitivismus den Fokus der Betrachtung auf die zwischen Input und Output stattfindenden Informationsverarbeitungsprozesse. Zentrales Anliegen der Kognitivist*innen ist es also, die Black Box des Behaviorismus aufzuhellen.

Anders als in der Psychoanalyse sollen bei der kognitivistischen Untersuchung des menschlichen Geists nicht bestimmte psychische Wirkkräfte, deren Existenz kaum beweisbar ist, im Vordergrund stehen; es werden vielmehr empirische Zugänge zu diesem schwierigen Untersuchungsfeld gesucht. In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass das kognitivistische Unternehmen Gemeinsamkeiten sowohl mit der psychoanalytischen als auch mit der behavioristischen Psychologie aufweist: Mit der Psychoanalyse teilt es sich das Interesse für die Vorgänge in der Psyche, mit dem Behaviorismus die streng naturwissenschaftliche Ausrichtung der Untersuchung.

Im Rahmen der Betrachtung der menschlichen Psyche und der dort stattfindenden Vorgänge fokussieren die kognitivistischen Theorien dabei Prozesse der Informationsverarbeitung. Das menschliche Gehirn wird gewissermaßen als eine Art Computer verstanden, sodass mentale Prozesse analog zu den Rechen- und Verarbeitungsprozessen des Computers als Vorgänge der Verarbeitung erhobener bzw. eingegebener Informationen verstanden werden müssen. Konkret bedeutet das, dass ein Input nicht – wie im Behaviorismus angenommen – auf nicht näher zu klärende Weise einen Output erzeugt, sondern dass vielmehr das Gehirn den Output im Rahmen der Verarbeitung des Inputs generiert.

Anthropologische und epistemologische Implikationen der kognitivistischen Theorie

Diese zentrale Annahme stellt einen fundamentalen Bruch mit den Überzeugungen des Behaviorismus dar. Während der Mensch im Behaviorismus lediglich ein Behälter für unabhängig von ihm ablaufende Reiz-Reaktions-Muster ist, ist er aus kognitivistischer Perspektive wesentlicher Teil der Generierung eines Outputs. Diese Fokusverschiebung hat zur Folge, dass der Mensch selbst wieder stärker zum Objekt psychologischer Forschung wird: Wie verarbeitet er Informationen? Was geht in seinem Gehirn vor? Warum verarbeiten verschiedene Menschen gleiche Informationen anders? Darüber hinaus ist mit der kognitivistischen Annahme eine gewisse Anerkennung der Individualität des Menschen verbunden: Anders als im Behaviorismus wird ihm eine aktive Rolle in der Welt zugestanden, im Rahmen welcher er in gewissem Rahmen eigenständig zu agieren in der Lage ist. Der Mensch ist damit in der Lage, sein Verhalten bewusst zu steuern. Gleichwohl ist die kognitivistische Perspektive auf den Menschen in dieser Hinsicht weitaus beschränkter als die des Konstruktivismus. So herrscht im Kognitivismus ebenso wie im Behaviorismus die Annahme vor, es gebe eine objektive und zugleich erkennbare Außenwelt und damit verbunden eine richtige Informationsverarbeitung. Das wiederum hat zur Folge, dass die anerkannte Individualität der Menschen und ihrer Zugriffsweisen auf Informationen nicht wie im Konstruktivismus zu einer weitgehenden Emanzipation von Normierungsbestrebungen, sondern vielmehr zu einer Pathologisierung von als abweichend eingestuften Verarbeitungsprozessen führt. Anders formuliert: Die Menschen und ihre kognitiven Prozesse sind zwar verschieden, aber das gilt es im Sinne einer Angleichung an das objektiv Richtige zu beheben.

Der Kognitivismus setzt also einen ontologischen wie einen epistemischen Realismus voraus: Eine objektive Außenwelt ist existent und – zumindest in wesentlichen Punkten – als solche erkennbar. Hierin liegt der zentrale Unterschied zum Konstruktivismus, der eine skeptische Epistemologie vertritt und aus diesem Grund vielmehr auf die subjektiven Erlebenswelten einzelner Individuen abstellt. Dass diese Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen erhebliche Auswirkungen haben, ist nicht nur anhand der bereits beschriebenen anthropologischen Implikationen, die massiv von denen des Konstruktivismus abweichen, ersichtlich, sondern auch in der praktischen Anwendung im Lernkontext erkennbar. Anders als behavioristisch orientierter Unterricht ist kognitivistisch ausgerichteter zwar nicht auf das bloße Übernehmen von Faktenwissen ausgerichtet; dennoch sind klare Lernziele definiert, die vor allem auf die Normierung der Lernenden zielen: Ihre Wahrnehmung, ihre Wege des Problemlösens und weitere kognitive Kapazitäten sollen angepasst werden an eine als objektiv korrekt verstandene Norm. Es gilt, vermeintliche Fehler in der Informationsverarbeitung auszuräumen. Maßstab hinsichtlich der Bewertung der jeweiligen Informationsverarbeitung ist dabei selbstredend nicht das Subjekt selbst.

Was bedeutet Informationsverarbeitung?

All das wirft die Frage nach dem exakten Forschungs- und Bearbeitungsgegenstand auf: Was genau wird in der kognitivistischen Psychologie unter dem Begriff der Informationsverarbeitung verstanden? Tatsächlich ist der Gegenstand der so verstandenen Psychologie weniger eng umgrenzt als etwa im Behaviorismus, der sich ausschließlich mit beobacht- und messbarem Verhalten befasst. Zu den Prozessen der Informationsverarbeitung zählen im Grunde alle mentalen bzw. kognitiven Prozesse: Denken, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Entscheiden, Sprechen, Problemlösen usw. sind im Sinne des Kognitivismus allesamt Gegenstände der Psychologie. Der Begriff der Informationsverarbeitung verweist also nicht auf einen bestimmten Gegenstand, sondern vielmehr auf die Gesamtheit der mentalen Prozesse, die als Prozesse einer solchen Verarbeitung verstanden werden müssen: Alles, was auf Ebene der Psyche geschieht, ist Informationsverarbeitung. Diese kann auf unterschiedliche Weisen ausgestaltet sein, unterschiedliche Gegenstände haben und zu überaus differenten Outputs führen, was eine exaktere Eingrenzung des Gegenstandsbereichs verunmöglicht.

Im Rahmen aller Informationsverarbeitungsprozesse zentral sind dabei die Aufnahme von Informationen aus der Umwelt sowie die Abgleichung dieser mit bereits gespeicherten Informationen. Ulrich Neisser spricht etwa davon, dass ein kognitiver Verarbeitungsprozess darin bestehe, aufgenommene Informationen in ein Schema aus bereits vorhandenem Wissen einzufügen – und dabei möglicherweise auch die Organisation dieses Wissensnetzes zu verändern. Hierin wird wiederum die Rolle der Lernenden in der Bearbeitung der aufgenommenen Informationen ersichtlich: Nicht die Information, ergo: der Reiz, produziert einen Output, sondern die Verarbeitung, die Einfügung in eine bestehende Wissens- und Kenntnisarchitektur.

Interessant sind in diesem Kontext auch die kognitivistischen Entwicklungstheorien, die vor allem auf Jean Piagets Forschung zurückgehen, da anhand ihrer die Verbindung dieses Lernmodells mit dem beschriebenen epistemischen Realismus deutlich wird: Die kognitive Entwicklung eines Kindes wird beschrieben als stufenweise Entwicklung hin zu einer als korrekt verstandenen Erkenntnisfähigkeit, die maßgeblich über Akkomodation und Assimilation gesteuert wird. Konkret bedeutet das, dass bestehende Informationsverarbeitungsschemata entweder – wenn sie passend sind – auf eine vorgefundene Situation angewendet oder – wenn sie nicht passend sind – an die Situation angepasst und damit verändert werden. Im Rahmen dieser Prozesse entwickeln sich die Schemata idealerweise immer weiter, es kommt also zu einer Perfektionierung der Verarbeitungsschemata in Auseinandersetzung mit der als Maßstab geltenden Welt. Lernen und Entwicklung bedeuten damit im Grunde, die eigenen kognitiven Schemata derart zu verändern, dass sie der Welt gerecht werden.

Eine besondere Rolle nehmen dabei das Lernen durch Einsicht sowie das Lernen am Modell ein: Die Lernenden assimilieren ihre Schemata nicht kontextlos, sondern nur dann, wenn sie zur Einsicht gelangen, ein Problem mit den vorhandenen Schemata nicht lösen zu können und zugleich eine Möglichkeit einer solchen Lösung finden.

Vom Behaviorismus zum Kognitivismus: die kognitive Wende

Die Geschichte des Kognitivismus und seiner Verbreitung in der wissenschaftlichen Psychologie beginnt mit der sog. kognitiven Wende (cognitive revolution), die ihrerseits eingeleitet wurde durch Noam Chomskys Kritik an Burrhus Frederic Skinners behavioristischer Sprachtheorie sowie weitere Kritiken an der behavioristischen Psychologie, die jedoch weniger prominent rezipiert wurden als diejenige Chomskys. Skinners Versuch, die menschliche Sprache verhaltensanalytisch und damit im Sinne behavioristischer Reiz-Reaktions-Schemata zu erklären, ist Chomsky zufolge unangemessen, da er die Komplexität der Sprache über Gebühr reduziere und darüber hinaus nicht widerspruchsfrei alleine durch Rückgriff auf Reiz, Reaktion und Verstärkung zu erklären sei. Damit – das lässt sich aus Chomskys Kritik ableiten – ist das behavioristische Paradigma nicht geeignet, das menschliche Verhalten in Gänze zu erklären, und bedarf folglich der Erweiterung. Ebendiese will der Kognitivismus mit den beschriebenen Mitteln erreichen.

Deutlich wird hierbei, dass die kognitive Wende keine radikale Abkehr vom behavioristischen Modell darstellt, sondern vielmehr als Ergänzung und Erweiterung zu verstehen ist. Bestätigt wird diese Annahme durch einen Blick auf die heutige Psychologie, in der Ansätze aus beiden Theoriegebäuden verbunden sind. Das gilt indes sowohl für die psychologische Forschung, die sich auf beobachtbares Verhalten ebenso wie auf mentale Prozesse konzentriert und beide als eng verbunden betrachtet, als auch für die Anwendung – so etwa in der Kognitiven Verhaltenstherapie, die die Verbindung beider Ansätze bereits im Namen trägt.