Piaget: Stufenmodell der kognitiven Entwicklung

Piaget. Stufenmodell der kognitiven Entwicklung

Jean Piaget hat mit seinem Stufenmodell der kognitiven Entwicklung eine umfassende, empirisch unterfütterte Theorie des menschlichen Denkens und seiner Entwicklung vorgelegt. Eine Kernannahme der Entwicklungstheorie Piagets besteht darin, dass das menschliche Denken sich im Laufe des Lebens fortentwickelt – und Kinder somit auf eine andere Weise denken als Erwachsene. Mit seinem Modell versucht Piaget, diese stadienweise sich vollziehenden Veränderungen des Denkens zu erfassen. Mit seiner Theorie ist er zu einem zentralen Vertreter der Entwicklungspsychologie geworden, die sich auch heute noch vielfach mit seinem Modell kognitiver Entwicklung auseinandersetzt.

Anthropologische Prämissen: Anpassung und Äquilibrium

Piagets Arbeit ist – obwohl sie kaum Erklärungen für die beschriebenen Entwicklungen liefert – nicht rein empirisch ausgerichtet. Stattdessen arbeitet Piaget mit mehreren anthropologischen Prämissen, die er zur Untermauerung seiner Kernthesen sowie zur allgemeinen Erklärung der menschlichen Entwicklung heranzieht.

Nach Piaget wird der Mensch mit der Fähigkeit zur Anpassung geboren, die in zwei Richtungen verlaufen kann. Bei der Assimilation wird Neues so angepasst, dass es in bereits bestehende Schemata passt, während bei der Akkommodation bestehende Schemata an Neues angepasst werden. Als Schema wird dabei eine Art Grundannahme verstanden, die unser Denken und unsere Informationsverarbeitung steuert. Es handelt sich dabei grob gesagt also um die Muster, in denen wir denken. Erleben wir etwas völlig Neues, fügen wir dieses Neue entweder in die bereits bestehenden Schemata ein (Assimilation) oder wir scheitern damit und müssen unsere Schemata verändern (Akkommodation).

Hierbei strebt der Mensch Piaget zufolge immer nach einem Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation. Dieses Prinzip des Äquilibriums, des Gleichgewichts, stellt sicher, dass ein ausgewogenes Denken stattfinden kann. Würde einer der beiden Anpassungsmechanismen überwiegen, käme es entweder zu einem egozentrischen oder zu einem bloß nachahmenden Denken.

Alle Anpassungsleistungen finden dabei nach Piaget aufgrund der dem Menschen inhärenten Tendenz zur Organisation statt. Konkret bedeutet das, dass Piaget annimmt, dass der Mensch dazu neigt, Neues integrieren, systematisieren, verstehen und ordnen zu wollen.

Piagets Stufenmodell der kognitiven Entwicklung – die Entwicklungsstufen

Ausgehend von den genannten Prämissen und basierend auf zahlreichen Beobachtungen von Kindern hat Piaget ein Stufenmodell der kognitiven Entwicklung entworfen. Hierin beschreibt er, wie sich die kindliche Entwicklung des Denkens in vier Stufen vollzieht. Wichtig ist dabei, dass nach Piaget jedes Kind – unabhängig von seiner sozialen oder kulturellen Umgebung – jede Stufe durchläuft und das Voranschreiten zu einer höheren das erfolgreiche Durchlaufen aller niedrigeren Stufen voraussetzt.

Piaget hat darüber hinaus beobachtet, dass das Tempo der Entwicklung sich von Kind zu Kind unterscheidet. Das führte dazu, dass er den einzelnen Entwicklungsstufen relativ breite Altersspannen und kein exaktes Alter zuordnete. Auch diese Altersspannen verstehen sich dabei nicht als unumstößliche Wahrheiten, sondern als empirisch ermittelte Normwerte, von denen es durchaus Abweichungen geben kann.

Die Entwicklung von einer zur nächsten Stufe ist getrieben von den eingangs beschriebenen Adaptionsmechanismen. Das Kind stößt mit seinen erworbenen Handlungs- und Denkschemata immer wieder auf Probleme und wird überdies immer wieder mit neuen Informationen konfrontiert. So werden Informationen in bestehende Schemata integriert und bestehende Schemata aufgrund von festgestellten Unanwendbarkeiten angepasst.

Erste Entwicklungsstufe: Sensumotorische Intelligenz (0-2 Jahre)

In der ersten Entwicklungsstufe ist ausschließlich sog. sensumotorische Intelligenz vorhanden. Das bedeutet, dass die in dieser Stufe der kognitiven Entwicklung befindlichen Kinder ausschließlich zurückgreifen können auf solche Fähigkeiten, die ein Zusammenspiel von Sinneseindruck und Motorik erfordern. Konkret geht es dabei um Tätigkeiten wie Greifen, Schlucken usw. Piaget beschreibt bezüglich dieser sensumotorischen Tätigkeiten und Fähigkeiten wiederum eine stufenweise Entwicklung, sodass die erste Entwicklungsstufe sich aufspaltet in sechs Unterstufen. Hierin zeigt sich sehr deutlich eine zunehmende Komplexität und Abstraktheit der Intelligenzakte des Kindes.

Übung angeborener Reflexe

In der ersten Unterstufe findet das Üben angeborener Reflexe, etwa von Saug- und Greifreflexen, statt. Unter Übung ist hierbei jedoch kein bewusster respektive reflektierter Prozess zu verstehen. Die Wiederholung der reflexhaften Tätigkeit und die Ausweitung auf andere Gegenstände findet vielmehr ebenfalls reflexhaft statt.

Primäre Kreisreaktionen

In der zweiten Unterstufe wird dieses Verhalten bewusst ausgeweitet: Zufällige reflexbedingte Handlungen werden dann wiederholt, wenn sie zu angenehmen Erlebnissen führen. Es handelt sich folglich um eine Form des Reiz-Reaktions-Lernens.

Sekundäre Kreisreaktionen

In der dritten Unterstufe erkennt das Kind in seinen Handlungen ein Mittel zum Zweck, eine erste Abstraktionsleistung findet statt. So erkennt es etwa, dass eine bestimmte Handlung wie das Greifen immer wieder zu einem bestimmten Ergebnis führt. Der Unterschied zur primären Kreisreaktion besteht darin, dass das als lustvoll erlebte Verhalten auch auf andere Gegenstände und Situationen übertragen wird. Darüber hinaus beginnt die Entwicklung der sog. Objektpermanenz: Das Kind lernt, dass Objekte auch dann noch existieren, wenn sie gerade nicht präsent sind. Auch hierin besteht eine Abstraktionsleistung.

Koordination der erworbenen Handlungsschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen

In der vierten Unterstufe findet die Ausweitung und breite Anwendung der bisher erworbenen Handlungsschemata statt. Darüber hinaus versucht das Kind, mehrere bisher erworbene Schemata auf einen einzigen Gegenstand anzuwenden – es versucht allem Anschein nach, herauszufinden, welche Schemata bei welchem Gegenstand zu welchem Ergebnis führen. Hier lässt sich die Anpassung durch Assimilation und Akkommodation gut erkennen: Das Schema „Schütteln“ führt bei einer Rassel genau wie bei einer Box mit Murmeln zum Ergebnis „Geräusch“, sodass hier eine Assimilation stattfinden kann; bei einem Holzklotz hingegen funktioniert das nicht, sodass das Schema dahingehend angepasst werden muss, dass eine Einschränkung auf bestimmte Gegenstände stattfindet.

Tertiäre Kreisreaktionen

In der fünften Unterstufe setzt das Kind die systematische Anwendung erworbener Handlungsschemata fort und experimentiert mit ihnen, um neue Handlungsschemata zu entdecken. So kombiniert es etwa bereits bestehende Schemata zu neuen Handlungsabläufen oder versucht, Schemata leicht zu variieren, um zu neuen Ergebnissen zu gelangen.

Übergang vom sensomotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung

In der sechsten und letzten Unterstufe gelingt es dem Kind, mentale Repräsentationen von Objekten und Handlungen zu bilden. Das bedeutet, es kann Handlungen an Objekten auch in seiner Vorstellung vollziehen und so die Ergebnisse tatsächlicher Handlungen gedanklich vorwegnehmen. Das Experimentieren, das zuvor in der Außenwelt stattgefunden hat, kann nun teilweise in der Vorstellung stattfinden. Die Objektpermanenz ist in dieser Stufe vollständig ausgebildet, was für die mentale Repräsentierung von Objekten nötig ist.

Zweite Entwicklungsstufe: Präoperationale Intelligenz (2-7 Jahre)

Erreicht das Kind die zweite Entwicklungsstufe, das Stadium der präoperationalen Intelligenz, so verfügt es über ein Begriffsinventar, Objektpermanenz und damit verbunden über symbolische Grundfähigkeiten. So ist es etwa in der Lage, zwischen dem faktischen Gegenstand und seiner mentalen Repräsentation zu unterscheiden – letztere wird als Symbol des Gegenstands begriffen. Sichtbarer Ausdruck dieser ersten symbolischen Fähigkeiten sind Als-ob-Spiele: Das Kind kann nun etwa so tun, als handle es sich bei einer Sandform um einen Kuchen oder bei einem Holzklotz um ein Flugzeug.

In anderen Bereichen zeigt sich hingegen, dass die Fähigkeit zur Abstraktion längst nicht vollständig ausgebildet ist. Besonders auffällig sind hier die Phänomene des Animismus, des Finalismus und des Artifizialismus. Kinder schreiben unbelebten Gegenständen ebenso wie Naturphänomenen personale Eigenschaften zu (Animismus) – so wird etwa in nicht-metaphorischer Weise davon gesprochen, dass die Sonne schlafen geht oder Regen böse sei. Gleichzeitig werden Objekte auf ihre Funktion reduziert, die als Grund ihrer Existenz angenommen wird (Finalismus): Holz ist da, damit wir heizen können; Wasser gibt es, damit wir es trinken können usw. Artifizialismus schließlich beschreibt generalisierende Annahmen über die Entstehung von Objekten: Kinder gehen prinzipiell davon aus, dass sie geschaffen worden sind. In Abhängigkeit vom sozialen Umfeld wird entweder von einer Schaffung durch den Menschen oder durch andere Mächte, etwa einen Gott, ausgegangen.

Fehlendes Abstraktionsvermögen zeigt sich hier ferner typischerweise daran, dass das Kind sich bei Betrachtungen von Gegenständen lediglich auf ein einziges Merkmal konzentrieren kann. Gut zeigen lässt sich das an Beispielen: Liegen dem Kind zwei DIN-A4-Blätter vor, so beurteilt es sie als gleich groß. Wird nun eines der beiden Blätter in der Mitte zerschnitten und die beiden Hälften so aneinandergeklebt, dass das Blatt schmaler und länger wird, wird das Kind es gegenüber dem anderen Blatt als größer beurteilen. Hier wird – trotz der vorherigen Einschätzung – nur ein einziger Aspekt des Blatts fokussiert und zur Grundlage der neuen Bewertung gemacht.

Darüber hinaus ist das Kind in der zweiten Stufe der kognitiven Entwicklung nach Piaget nicht zur Perspektivübernahme fähig. Hierfür wird meist der Begriff des Egozentrismus verwendet: Das Kind ist nicht in der Lage, sich in die Position anderer Personen zu versetzen; es bleibt auf seine eigene Wahrnehmung der Welt zurückgeworfen.

Dritte Entwicklungsstufe: Konkret-operationale Intelligenz (7-12 Jahre)

In der dritten Entwicklungsstufe, der des konkret-operationalen Denkens, lernt das Kind, mehrere Eigenschaften eines Objekts gleichzeitig wahrzunehmen und in sein Denken einzubeziehen. Das zeigt sich am beschriebenen Papierbeispiel deutlich: Das Kind ist nun in der Lage, zwischen Länge und Gesamtgröße zu differenzieren. Es erkennt an, dass ein Gegenstand unterschiedliche Qualitäten aufweist und anhand mehrerer ebendieser beurteilt werden kann. Die unterschiedlichen Eigenschaften können darüber hinaus zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Der Animismus gehen in der dritten Stufe der kognitiven Entwicklung deutlich zurück. An seine Stelle tritt ein eher regelbasiertes Kausaldenken. Der Regen ist nun beispielsweise nicht mehr böse, das Kind erklärt vielmehr kausal, aus welchem Grund es nass wird: Weil Regen aus Wasser besteht und Wasser nass ist, werde ich vom Regen nass. Perspektivübernahmen sind nun möglich und der Egozentrismus des Denkens verschwindet ebenfalls weitgehend.

Dennoch ist das Denken noch nicht vollständig abstrakt. So kann das Kind nun zwar weitgehend gedanklich mit Gegenständen umgehen, ihre einzelnen Eigenschaften unabhängig von ihnen betrachten und mit ihnen operieren; dennoch muss der Gegenstand des Denkens ein konkreter sein – wenngleich er nicht materiell vorliegen muss. Leicht zeigen lässt sich das an mathematischen Beispielen: Rechenaufgaben können ohne Zuhilfenahme der Finger und ohne Arbeit mit abzählbaren Gegenständen gelöst werden; wird eine Zahl jedoch durch eine Variable ersetzt, scheitert das Kind.

Vierte Entwicklungsstufe: Formal-operationale Intelligenz (ab 12 Jahren)

In der letzten Entwicklungsstufe entfällt das Erfordernis des konkreten Gegenstands. Das Kind ist nun in der Lage, rein abstrakt zu denken. Daraus ergeben sich weitgehende Möglichkeiten. So kann nun etwa unbeschränkt hypothetisch gearbeitet werden: Was wäre, wenn X? Damit verbunden ist die Fähigkeit zur Deduktion. Das Kind kann aus gegebenen Informationen weitere ableiten, auch wenn keine konkreten Gegenstände inbegriffen sind. Das ist auch bei gegebenen kontrafaktischen Informationen möglich. In dieser Stufe ist das Kind folglich zum logischen Denke im Sinne formaler Logik fähig.

Ferner kann es Zusammenhänge über verschiedenen Themenbereiche hinweg herstellen, die Arbeit mit Wahrscheinlichkeiten und Proportionen wird möglich, Theorien können angewendet und systematisch nach Problemlösungen gesucht werden. Auch das Operieren mit rein abstrakten Begriffen wie (Nicht-)Identität, Sein oder Kategorie ist möglich. Kurzum: Das Denken ist abstrakt, nicht mehr gegenstandsgebunden und damit weitgehend uneingeschränkt möglich.

Bedeutung der Entwicklungstheorie Piagets

Piagets Stufenmodell der kognitiven Entwicklung gilt als wegweisend für die weitere Entwicklungspsychologie. Zahlreiche Untersuchungen haben sich an Piagets systematisierte Beobachtungen angeschlossen und diese teilweise bestätigen, teilweise aber auch modifizieren können. Bis heute gilt Piaget aufgrund dieses Einflusses auf einen großen Teil der nachfolgenden Untersuchungen als zentrale Figur der Entwicklungspsychologie. Auch die Lernpsychologie hat Piaget mit seinem Modell wesentlich beeinflusst. Die Lerntheorie des Konstruktivismus etwa baut auf sein Assimilations-Akkommodations-Modell. Neben konstruktivistischen hat Piaget auch kognitivistische Forschungen und Modelle entscheidend geprägt. Daneben ist Piagets Forschung auch für die moral psychology, insbesondere für das Modell Lawrence Kohlbergs, von Bedeutung.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Piagets Ausführungen ohne Kritik geblieben sind. Ganz im Gegenteil: Als Zentralpunkt der Entwicklungspsychologie des 20. Jahrhunderts haben sich etliche Theoretiker*innen wie Empiriker*innen an ihnen abgearbeitet. Primärer Kritikpunkt ist dabei die von Piaget angenommene Universalität der stufenweisen Entwicklung. Hierin sehen viele Kritiker*innen eine massive Unterschätzung der kulturell-sozialen Komponente menschlicher Entwicklung: Piaget fokussiert mit seiner Universalitätsthese einseitig die menschlichen Anlagen als Treibfaktoren der Entwicklung; erwiesenermaßen wirken jedoch das soziale Umfeld und der kulturelle Kontext, in welchen ein Mensch aufwächst, die sog. Umweltfaktoren, massiv auf die individuelle Entwicklung ein. Gezeigt werden konnte etwa, dass eine formal-operationale Intelligenz sich primär bei solchen Menschen entwickelt, die eine Schule besucht haben. Das Erreichen der vierten Entwicklungsstufe scheint daher eher das Resultat institutionalisierten Trainings bestimmter Fähigkeiten zu sein – und kein Endpunkt einer von selbst und notwendig aus dem Individuum heraus verlaufenden Entwicklung. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass Untersuchungen zufolge 40 bis 60 Prozent der Erwachsenen die formal-operationale Stufe nicht erreichen (vgl. Neimark, 1978).

Darüber hinaus konnte empirisch gezeigt werden, dass die klare Stufenunterscheidung, die Piaget vornimmt, in dieser Form nicht haltbar ist. So unterschätzt Piaget etwa das Begriffsbildungsvermögen von Vorschulkindern deutlich (vgl. Donaldson, 1982). Auch andere Fähigkeiten werden bereits früher ausgebildet als von Piaget angenommen.

Literatur:
Donaldson, Margaret (1982): Wie Kinder denken. Bern. [orig. 1978].
Neimark, Edith D. (1978): „Die Entwicklung des Denkens beim Heranwachsenden. Theoretische und empirische Aspekte der formalen Operationen. In: Steiner, Gerhard (Hrsg.): Piaget und die Folgen. Entwicklungspsychologie. Denkpsychologie. Genetische Psychologie. Zürich. S. 155-171.