Lawrence Kohlberg: Stufenmodell der moralischen Entwicklung

Kohlberg: Stufenmodell der moralischen Entwicklung

Lawrence Kohlberg versucht mit seinem Stufenmodell der moralischen Entwicklung, zu beschreiben, in welchen Schritten sich das moralische Urteilsvermögen des Menschen entwickelt. Kohlberg knüpft dabei vor allem an Jean Piagets Entwicklungstheorie, aber auch an verschiedene ethische Theorien dar. Sein Anliegen besteht dabei jedoch nicht darin, selbst ethische Aussagen zu treffen. Kohlbergs Entwicklungsmodell ist vielmehr der moral psychology zuzuordnen, die sich streng empirisch mit den Wertvorstellungen von Menschen sowie dem Zustandekommen dieser Vorstellungen und Urteile befasst, nicht jedoch mit ihrer Gültigkeit oder der Frage danach, ob diese Vorstellungen und Urteile gut sind.

Grundlegendes: Logisches Denken, Empathiefähigkeit und moralische Entwicklung

Kohlberg befasst sich zunächst mit den notwendigen Voraussetzungen der Entwicklung moralischer Vorstellungen und Urteile und damit mit den Grundlagen des individuellen sozialen Handelns. Hierbei stellt er fest, dass „moralisches Denken natürlich auch Denken ist“ (S. 124), womit naheliegt, dass die allgemeine Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten notwendige Vorbedingung der Entwicklung des moralischen Denkens ist: „[F]ortgeschrittenes moralisches Denken [hängt] von einem fortgeschrittenen logischen Denken ab“ (ebd.). Bei der Beschreibung der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten orientiert Kohlberg sich eng an Piagets Entwicklungsmodell und führt das Erreichen des formal-operatorischen Denkens als Voraussetzung einer fortgeschrittenen Moralentwicklung an.

Neben der allgemeinen kognitiven Entwicklung sieht Kohlberg die Entwicklung der Empathiefähigkeit als Voraussetzung fortgeschrittenen moralischen Denkens. Begründet liegt dieser Umstand darin, dass Handeln sich immer in einem intersubjektiven Rahmen vollzieht und moralische Fragen solche nach dem richtigen Handeln sind – womit bei jeder moralischen Frage immer auch andere Subjekte berührt sind. Diesem Umstand gerecht werden und ihn angemessen in die Abwägung der Handlungsmöglichkeiten einbeziehen kann nur, wer zur „sozialen Perspektiven- bzw. Rollenübernahme“ (S. 125) fähig ist, die Position und Situation anderer also nachvollziehen kann.

Zentral ist indes die Feststellung, dass es sich bei den genannten Voraussetzungen zwar um notwendige, nicht jedoch um hinreichende handelt: „Man kann nicht prinzipienorientiert handeln (Stufe 5,6), wenn man Prinzipien nicht versteht oder nicht an sie glaubt. Man kann allerdings in der Begrifflichkeit derartiger Prinzipien denken oder argumentieren, ohne nach ihnen zu leben“ (S. 126). Ausgeprägte allgemeine kognitive Fähigkeiten und eine ausgebildete Empathiefähigkeit sind also für die moralische Entwicklung nötig, erzwingen sie jedoch nicht. Kohlberg hält diesbezüglich explizit fest, dass viele Menschen sich auf einer „höhere[n] logischen“ (S. 125) Stufe befinden, ohne eine entsprechende moralische Entwicklung aufzuweisen.

Die drei Ebenen der moralischen Entwicklung

Die moralische Entwicklung selbst verläuft Kohlbergs Modell zufolge auf drei Ebenen. Auf die präkonventionelle folgt die konventionelle, auf welche die postkonventionelle folgt. Die meisten Kinder bis zum neunten Lebensjahr, einige Jugendliche und die meisten Straftäter*innen befinden sich Kohlberg zufolge auf der präkonventionellen Ebene. Auf dieser Ebene können die gesellschaftlichen Konventionen und Regeln nicht verstanden und damit nicht adäquat befolgt werden.
Auf der konventionellen Ebene befinden sich Kohlberg folgend die meisten Jugendlichen und Erwachsenen. In diesem Stadium werden die gesellschaftlichen Regeln und Konventionen befolgt, weil sie die Regeln und Konventionen sind. Die Individuen dieser Stufe können die Regeln und Konventionen verstehen, hinterfragen sie nicht und folgen schlicht.
Die postkonventionelle Ebene wird nur von einer Minderheit der Erwachsenen, meist nach dem 20. Lebensjahr, erreicht. Auf dieser Ebene werden die gesellschaftlichen Regeln verstanden und hinterfragt. Befolgt werden sie nur, wenn sie bestimmten moralischen Prinzipien, die das Individuum sich selbst setzt, entsprechen. Entspricht ein Gesetz oder eine Konvention den moralischen Prinzipien des Individuums nicht, folgt es diesem Gesetz bzw. dieser Konvention nicht.

Die sechs Stufen der moralischen Entwicklung

In seinem Stufenmodell der moralischen Entwicklung differenziert Kohlberg die Unterteilung in Ebenen noch weiter: Jede der drei Ebenen besteht aus zwei Stufen, die sich im Grad der damit beschriebenen Entwicklung voneinander unterscheiden. Die Stufen 1 und 2 sind damit der präkonventionellen, die Stufen 3 und 4 der konventionellen und die Stufen 5 und 6 der postkonventionellen Ebene zuzuordnen.
Die Entwicklung erfolgt dabei – wie die Beschreibung der drei Ebenen bereits andeutet – in aufsteigender Reihenfolge, wobei nicht alle Individuen die obersten Stufen erreichen. Die Stufen verstehen sich damit – ebenso wie die Ebenen – als Entwicklungsschritte.

Stufe 1: Heteronorme Moralität

Die erste Stufe in Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung ist die der heteronormen Moralität. In diesem Stadium befindliche Menschen halten Regeln ein, deren Übertretung bestraft wird. Darüber hinaus halten sie es für rechtens, „Personen oder Sachen keinen physischen Schaden zuzufügen“ (S. 128). Die Motivation für dieses Verhalten besteht ausschließlich in der Angst vor Bestrafung sowie damit verbunden in der Macht der Autoritäten. Interessen anderer werden nicht berücksichtigt und teilweise nicht einmal als vorhanden erkannt. Eine Reflexion von Handlungen und Handlungsfolgen erfolgt nicht.

Stufe 2: Individualismus, Zielbewusstsein und Austausch

In der zweiten Stufe besteht ein Verständnis dafür, dass auch andere Subjekte spezifische Interessen haben – und dass diese mit eigenen Interessen unvereinbar sein können. Regeln werden befolgt, sofern sie den unmittelbaren Interessen der eigenen oder einer anderen Person dienen. Darüber hinaus hat sich eine rudimentäre Gerechtigkeitsidee entwickelt, die vor allem auf Gleichwertigkeit im Sinne gleichwertigen Austauschs baut.

Stufe 3: Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonelle Konformität

Wer sich in der dritten Stufe der moralischen Entwicklung befindet, hat ein ausgeprägtes Interesse daran, die Erwartungen, die andere an ihn*sie hinantragen, zu erfüllen: In der dritten Stufe wollen wir gut sein und so wahrgenommen werden. Menschen, die sich in dieser Stufe befinden, sind sich der Tatsache bewusst, dass intersubjektive Erwartungen und Übereinkünfte wichtiger sein können als individuelle Interessen. Kohlberg spricht in diesem Zusammenhang von der Verinnerlichung der sog. Goldenen Regel: Was du nicht willst, was man dir antue, das füge auch keinem anderen zu.
Der wesentliche Unterschied zur zweiten Stufe, in der die Wechselseitigkeit ebenfalls von Bedeutung ist, besteht darin, dass hier zum einen abstrakter gedacht wird und zum anderen die Interessenbefriedigung zugunsten des Bedürfnisses, als gut wahrgenommen zu werden, in den Hintergrund tritt.

Stufe 4: Soziales System und Gewissen

In der vierten Stufe erfolgt eine weitere Abstraktion: Nun geht es nicht mehr primär darum, als gut wahrgenommen zu werden, sondern um das Funktionieren des sozialen Systems. Ein Bewusstsein dafür, dass gut zu sein kein Wert a priori ist, sondern dem Ziel dient, die Gesellschaft und das Zusammenleben funktionieren zu lassen, ist entstanden. Personen in Stufe 4 denken damit über die direkte Interaktion einzelner Individuen hinaus und nehmen die gesellschaftlichen Folgen des Handelns in den Blick. Wer sich in Stufe 4 befindet, hält sich an Regeln und Konventionen, um die genannten Ziele zu erreichen – und um übernommene Verpflichtungen zu erfüllen.

Stufe 5: Die Stufe des sozialen Kontrakts bzw. gesellschaftlichen Nützlichkeit, zugleich die Stufe individueller Rechte

Wer die fünfte Stufe erreicht, ist sich der Tatsache, dass moralische Normen und Werte relativ sind, bewusst: Sie sind nicht der Welt inhärent, sondern gruppen- und zeitspezifisch. Einige Werte werden jedoch noch als absolut verstanden, so etwa der eines Rechts auf das Leben und auf die Freiheit.
Kennzeichnend für die fünfte Entwicklungsstufe ist insgesamt der Glaube an einen Gesellschaftsvertrag im Sinne Thomas Hobbes: Hobbes nimmt in einem Gedankenexperiment an, dass die Menschen den Naturzustand, in dem alle alles tun dürfen, hinter sich gelassen und einen gemeinsamen Vertrag mit gegenseitigen Rechten und Pflichten entworfen haben, um die Rechte aller schützen zu können. Die fünfte Stufe der Moralentwicklung ist von ebendiesem Verständnis der freiwilligen Bindung an bestimmte Regeln zugunsten aller geprägt.
Geprägt ist das moralische Denken und Urteilen in dieser Stufe ferner von Nutzenkalkulationen: Ganz im Sinne einer utilitaristischen Ethik versucht das Individuum, Entscheidungen zu treffen, die der größtmöglichen Zahl an Subjekten den größtmöglichen Nutzen bringen.
Insgesamt ist derjenige Mensch, der sich in der fünften Entwicklungsstufe befindet, damit zur rationalen Abwägung verschiedener Standpunkte, zur unvoreingenommenen Prüfung von Ansprüchen und zur Ausarbeitung von Übereinkünften in der Lage.

Stufe 6: Die Stufe der universalen ethischen Prinzipien

Die höchste Stufe der moralischen Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Orientierung an selbstgewählten moralischen Prinzipien. Alle geltenden gesellschaftlichen Regeln werden vor dem Hintergrund dieser moralischen Prinzipien beleuchtet und nur befolgt, wenn sie mit ihnen vereinbar sind. Das eigene Handeln wird damit stets nach moralischen Prinzipien ausgerichtet, sodass ein beständiges Prüfen und Reflektieren der Handlungsoptionen erfolgt. Das Individuum ist damit in höchstem Maße rational, reflektiert handlungsleitende Normen und kann seine Entscheidungen stringent begründen.
Kohlberg spricht hier zwar von selbstgewählten Prinzipien, weist jedoch explizit auf die Art dieser Prinzipien, an denen das eigene Handeln in der sechsten Stufe ausgerichtet wird, hin: Es sind „universale Prinzipien der Gerechtigkeit: Alle Menschen haben gleiche Rechte, und die Würde des Einzelwesens ist zu achten“ (S. 132), „jeder Mensch [trägt] seinen End-)-Zweck in sich selbst und [muss] entsprechend behandelt werden“ (ebd.)

Kritik an Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung

Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung ist bis heute wirkmächtig, hat jedoch nicht nur wohlwollende Reaktionen erzeugt. Verwiesen werden muss hier etwa darauf, dass Kohlberg deskriptive und normative Aspekte in seiner Theorie vermengt, sodass nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob es sich um eine moralpsychologische oder eine ethische Theorie handelt. In besonderem Maße gilt das für die Beschreibungen der Stufen 5 und 6, die auf ganz bestimmte ethische Theorien rekurrieren: Kohlberg fasst den Glauben spezifisch an den Gesellschaftsvertrag und darauf aufbauend das Erkennen des „Wesen[s] der Moralität“ (S. 132) als Entwicklungsfortschritt, was bedeutet, die Richtigkeit einer spezifischen Moraltheorie vorauszusetzen. Kohlberg geht es damit nicht nur um die Beschreibung der Entwicklung des moralischen Urteilens, sondern explizit auch um die Urteile bzw. die dabei gewählten Prinzipien selbst, die er als besser und schlechter kategorisiert. Der Rahmen empirischer Wissenschaft wird damit hin zur normativen Ethik überschritten, was die gesamte Theorie, die schließlich eine deskriptive sein will, in Zweifel zieht.

Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass Kohlbergs gesamte Beschreibung der moralischen Entwicklung äußerst schematisch und begrenzt ist. Die beschriebenen Prinzipien, deren Anerkennung Kohlberg zufolge für eine weit fortgeschrittene moralische Entwicklung spricht, sind etwa spezifisch für westliche Gesellschaften, so etwa die Idee der Goldenen Regel, des Gesellschaftsvertrags, der utilitaristischen Nutzenabwägungen oder letztlich der Würde des Menschen. Andere Moralvorstellungen, etwa solche, die auf etwa im Hinduismus verbreiteten pantheistischen Vorstellungen basieren, werden damit pauschal abgewertet, obwohl sie – in einem anderen Axiomensystem – mindestens ebenso rational begründet vertreten werden wie die von Kohlberg gewählten. Damit weist Kohlbergs Entwicklungsmodell ähnliche Schwächen auf wie viele andere entwicklungspsychologische Modelle, etwa dasjenige Eriksons.

Die sehr schematische Beschreibung der Stufen bedingt darüber hinaus fehlende Trennschärfe – insbesondere, wenn die Theorie auf die Praxis angewendet werden soll. So ist im Zweifelsfalle etwa kaum mit Sicherheit festzustellen, ob eine Person sich auf prä- oder auf postkonventioneller Ebene befindet, da beide im Zweifelsfalle durch das Nichteinhalten gesellschaftlicher Regeln geprägt sind. Ob hier eine Orientierung an abstrakten moralischen Prinzipien stattfindet (postkonventionell) oder schlicht unreflektiert und aus Unverständnis egoistisch gehandelt wird (präkonventionell) ist zumindest in der Praxis teilweise schlicht nicht feststellbar. Wird die Kritik an der Einengung auf bestimmte moralische Prinzipien umgesetzt, kommt darüber hinaus ein weiterer Fall infrage: Ein selbstgewähltes moralisches Prinzip, nach welchem das eigene Handeln ausgerichtet wird, könnte etwa auch ein sozialdarwinistisches sein, was – bis auf die der sechsten Stufe zugeordneten Reflexionskomponenten – der ersten Stufe entsprechen würde, was eine klare Einordnung verunmöglicht. Bedingt sind die beschriebenen Schwierigkeiten dabei vor allem auf die bereits monierte Vermengung deskriptiver und normativer Aussagen: Würden die Stufen ausschließlich auf die jeweilige Entwicklung in der Urteilsbegründung, nicht jedoch auf die gewählten Werte abstellen, also tatsächlich rein deskriptiv sein, ergäben sich hier keine Probleme.

Alle Zitate aus: Kohlberg, Lawrence (1995): Die Psychologie der Moralentwicklung. Herausgegeben von Wolfgang Althof. Frankfurt am Main.