Im Jahr 1921 trafen auf einer Tagung mehrere renommierte Psychologen zusammen, die sich auf den Bereich der menschlichen intellektuellen Fähigkeiten spezialisiert hatten. Die Ergebnisse des Treffens wurden im Journal of Educational Psychology festgehalten und für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es stellte sich heraus, dass jeder der Teilnehmenden seine eigene Definition von Intelligenz hatte. Für William Stern lag Intelligenz in logischem Denken, Urteilsvermögen, Gedächtnis und Abstraktionsvermögen begründet. Alfred Binet definierte Intelligenz als die allgemeine Fähigkeit des Individuums, sein Denken bewusst an neue Anforderungen anzupassen. Und nach Charles Spearman war Intelligenz die Fähigkeit eines Organismus, sich an eine immer komplexer werdende Umwelt anzupassen. Alle drei Wissenschaftler gehören zu den einflussreichen Gestaltern moderner Intelligenztheorien. Im Folgenden wollen wir die Ansichten Charles Spearmans und seine Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz näher beleuchten.
Charles Spearman als Wissenschaftler
Charles Edward Spearman (1863 – 1945) war ein britischer Psychologe, der als Pionier beim Einsatz einer populären statistischen Methode, der sogenannten Faktorenanalyse, in der Psychologie gilt. Darüber hinaus ist er für seine Arbeiten über den Spearman‘schen Rangkorrelationskoeffizienten und nicht zuletzt seine Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz bekannt. Letztere stellte er erstmalig 1904 vor.
Seine Schulausbildung absolvierte Spearman am Royal Leamington Spa College in Großbritannien. Im Jahr 1883 trat er als Ingenieuroffizier der British Army bei. Doch da sein Interesse schon lange der Philosophie galt, reichte er 1897 seinen Abschied bei der Armee ein, um sich universitären Studien zu widmen. Da er zu der Meinung kam, dass philosophische Konzepte nur im Rahmen psychologischer Studien weiterentwickelt werden können, nahm er 1897 ein Studium der Psychologie bei Wilhelm Wundt, dem Begründer der experimentellen Psychologie, in Leipzig auf. Sieben Jahre später promovierte er bei Wundt mit einer Arbeit zur Raumwahrnehmung. Im gleichen Jahr brachte er seine Arbeiten zur Faktorenanalyse der Intelligenz heraus und entwickelte die Zwei-Faktoren-Theorie.
1907 kehrte Spearman nach Stationen in Würzburg, Göttingen und Berlin nach Großbritannien zurück. Dort forschte und lehrte er am University College London. Nach seinem Abschied von der Universität beschäftigte er sich mit der Geschichte der Psychologie und war als Dozent in Chicago und Kairo tätig.
Die Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz
Mit seinem Konzept eines Generalfaktors der Intelligenz (g-Faktor) war Spearman der Erste, der die Hypothese einer allgemeinen Intelligenz einführte. Denn nach der Zwei-Faktoren-Theorie ist der g-Faktor an jeder beliebigen Aufgabenlösung beteiligt. Neben dem g-Faktor spielen dann bei den einzelnen Aufgaben weitere, spezifische Faktoren (s-Faktoren) eine Rolle.
Der Entwicklung der Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz ging die Analyse verschiedener geistiger Eignungstests und kognitiver Tests voraus, die Spearman mit Teilnehmer*innen durchführte. Spearman fiel auf, dass Teilnehmer*innen, die in einem Test eine gute Leistung erbracht hatten, auch in den anderen Tests gut abschnitten – trotz der sehr unterschiedlichen Aufgaben. Wer in einem Test schlecht abgeschnitten hatte, erzielte in den übrigen Tests ähnlich schlechte Ergebnisse. Spearman fragte sich, was diese Ergebnisse nun über die Natur der Intelligenz aussagten.
Um Aufschluss darüber zu erhalten, analysierte er die kognitiven Tests mit Hilfe der Faktorenanalyse. Auf diesem Weg sollten die Beziehungen zwischen scheinbar unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten gemessen und die Korrelation erklärt werden, die zwischen den Ergebnissen der unterschiedlichen Tests festgestellt werden konnten.
Die Faktorenanalyse ist ein statistisches Verfahren, mit dessen Hilfe viele verschiedene Variablen auf eine geringe Anzahl von Faktoren, die ihnen zugrunde liegen, reduziert werden können. Um dies zu erreichen, werden Gemeinsamkeiten der Variablen gesucht. Die Faktorenanalyse kann nicht nur zum Einsatz kommen, wenn wie im Falle Spearmans starke Korrelationen beobachtet wurden, die einen Zusammenhang von Variablen nahelegen; sie kann auch dazu dienen, zuvor nicht angenommene Gemeinsamkeiten von Variablen erst aufzudecken.
Das Ergebnis von Spearmans Analysen war die Zwei-Faktoren-Theorie. Aus seinen Beobachtungen und den beschriebenen Analysen leitete er ab, dass alle kognitiven Leistungen letztendlich anhand von zwei Variablen erklärt werden können. Diese Variablen bestehen aus einer allgemeinen, grundlegenden Fähigkeit, dem g-Faktor, und einer spezifischen Fähigkeit (s).
Psychometrisch gesehen bezieht sich der g-Faktor als Konstrukt dabei auf die allgemeine geistige Kapazität, die hinter der Leistung einer Person bei einer beliebigen Anzahl von kognitiven Aufgaben steht. Statistisch gesehen ist g eine Möglichkeit, Varianz zu erklären. So hat sich herausgestellt, dass sich mit diesem einen Faktor bis zu 50 % der Varianz in individuellen Leistungen bei IQ-Tests erklären lässt. Oder anders ausgedrückt: Der g-Faktor macht 40 bis 50 Prozent der Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Probanden bei einem bestimmten kognitiven Test aus. Ermittelt wird der g-Faktor dabei am besten durch das Zusammensetzen der Ergebnisse mehrerer unterschiedlicher Tests.
Die Unterschiede zwischen g-Faktor und s-Faktoren
Spearman zufolge wird jeder Mensch mit einem anderen Niveau des g-Faktors geboren. Je höher der g-Faktor ist, umso besser seien die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Leben in unterschiedlichen Bereichen. Die s-Faktoren sah Spearman nicht als angeboren an. Diese sollen anhand von Erfahrungen erworben werden. Während der g-Faktor mit jeder kognitiven bzw. intellektuellen Aktivität in Zusammenhang steht, ist ein s-Faktor spezifisch für nur eine bestimmte Aktivität. Die s-Faktoren können zum Beispiel numerische, verbale oder räumliche Fähigkeiten abbilden. Der Hauptzweck psychologischer Tests besteht nach Spearman darin, den g-Faktor eines Menschen zu bestimmen, denn die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten von jedem Menschen unterscheiden sich letztendlich auf der Basis ihres g-Faktors.
In seinem 1927 erschienen Buch The Abilities of Man, bezeichnet Spearman den g-Faktor als „mentale Energie“, diese könne – im Unterschied zu den s-Faktoren – auch durch ein Training nicht verbessert werden. Mathematisch betrachtet sei die Gesamtintelligenz einer Person (I) die Summe des g-Faktors und der s-Faktoren: I = g+s1+s2+s3…
Probleme der Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz und die Entstehung der verschiedenen hierarchischen Modelle
Der allgemeine Intelligenzfaktor wird mit dem Buchstaben g benannt und in der Regel als allgemeine Intelligenz bezeichnet. Doch letztendlich ist es nur ein mathematischer Wert. Entsprungen ist er aus statistischen Verfahren und quantitativen Daten. Und ein tatsächlicher mathematischer Beweis der Zwei-Faktoren-Theorie ist schwer zu erbringen. Darüber hinaus lassen die Ergebnisse der Faktorenanalyse viel Spielraum für Interpretationen. Aus ein und demselben Ergebnis lassen sich unterschiedliche Modelle über die Struktur der Intelligenz, also ihre verschiedenen Unterformen, ableiten. Im Ergebnis erhält man verschiedene hierarchische Modelle der Intelligenz. Dabei unterschieden sich die Modelle vor allem in der Frage, ob es einen allgemeinen und allen anderen intellektuellen Fähigkeiten übergeordneten g-Faktor gibt oder ob die verschiedenen Formen der Intelligenz nicht viel eher voneinander unabhängig sind.
Nichtsdestotrotz bedeutete die Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz für die Psychologie einen großen Fortschritt, da sie mit der Faktorenanalyse ein statistisch valides Untersuchungsverfahren etablierte. Mittlerweile wird Intelligenz gemeinhin jedoch als hierarchisch gegliedert verstanden: Kleinere Faktoren schlagen sich in der Fähigkeit, hochspezifische Aufgaben zu erledigen, nieder. Diese Faktoren können wieder in breitere Zwischenkategorien eingeordnet werden, die wiederum vom allgemeinen Faktor, dem g-Faktor, umfasst werden.
Die heutigen IQ-Tests basieren indes fast alle auf Faktorenmodellen, die sich wiederum an Spearmans Ansichten zum g-Faktor orientieren. Ein bekanntes Beispiel ist der Stanford-Binet-Test. Dieser misst unterschiedliche Leistungsbereiche, die zur allgemeinen Intelligenz beitragen. Dazu gehören beispielsweise das Arbeitsgedächtnis und das visuell-räumliche Denken.
Gezeigt ist damit, dass Spearmans Theorie heute zwar nicht mehr in Reinform leitend für die psychologische Untersuchung der Intelligenz ist, diese jedoch sowohl methodisch als auch theoretisch nachhaltig beeinflusst hat.
Kritik an der Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz
Kritik an Spearmans Intelligenztheorie ließ dennoch nicht lange auf sich warten. So kritisierte bereits Spearmans eigener Schüler Raymond Cattell die Theorie. Cattel war der Ansicht, dass Intelligenz aus zwei Hauptfaktoren besteht: einem fluiden (Gf) und einem kristallinen Faktor (Gc).
Dabei soll die kristalline Intelligenz eine Art festes Wissen sein. Dieses wird im Laufe der Zeit erworben und repräsentiert all jene Fähigkeiten, die schon durch früheres Lernen bekannt sind. Die fluide Intelligenz liegt der kristallinen zugrunde. Denn sie besteht in der Fähigkeit, sich Wissen überhaupt erst aneignen zu können, bezeichnet also die Lernfähigkeit. Cattell meinte, dass der g-Faktor eher Gc entspricht. Tests, die sich ausschließlich auf g konzentrieren, würden damit einen wichtigen Entwicklungsfaktor der menschlichen Intelligenz außer Acht lassen.
Auch andere Psycholog*innen kritisierten, dass der Faktor g zu reduktiv wäre. L.L. Thurstone und J. P. Guilford waren etwa der Ansicht, dass es mehrere nicht-reduzierbare und zudem unabhängige Bereiche der Intelligenz gibt. Allerdings fanden sie bei ihren Tests dann doch viele Korrelationen, die letztendlich stark auf einen allgemeinen g-Faktor hindeuten.
Howard Gardner gehört ebenfalls in die Riege von Spearmans Kritiker*innen. Er schlug seinerseits neun Intelligenzbereiche vor. Einige dieser Intelligenzbereiche sind jedoch nicht kognitiv. Dazu gehören die von Gardner benannte musikalische, die existenzielle und die kinästhetische Intelligenz. Gardner jedoch argumentierte, dass das akademische Umfeld verbale und logische Fähigkeiten überbetone und andere Formen der Intelligenz ignoriere. Gardners Kritiker*innen halten dem entgegen, dass es sich bei Musikalität oder Sportlichkeit eben nicht um Intelligenz im eigentlichen Sinne, sondern um Fähigkeiten handele. Aus diesem Grund können Menschen auch unabhängig von ihrer Problemlösefähigkeit sehr gut in diesen Bereichen werden.
Fazit zur Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz
Trotz kritischer Stimmen ist die g-Faktor-Theorie der Intelligenz bis heute weitgehend unbestritten. Darüber hinaus konnte sie durch experimentelle kognitive Forschung, Hirnanatomie und Molekulargenetik sogar gestützt werden. Auf diesem Weg wurde ebenfalls deutlich, dass die g-Faktor-Theorie eine starke vererbbare Komponente hat. Unklar ist jedoch noch immer, wodurch und wie die Korrelation zwischen den Leistungen in unterschiedlichen Fähigkeitstests verursacht wird.
Quellen und weiterführende Literatur:
https://www.britannica.com/science/psychology (Zugriff am 20.02.2022)
https://studiousguy.com/spearman-two-factor-theory-of-intelligence/ (Zugriff am 20.02.2022)
https://egyankosh.ac.in/bitstream/123456789/20703/1/Unit-1.pdf (Zugriff am 20.02.2022)
Spearman, Charles: „General intelligence,“ objectively determined and measured. American Journal of Psychology 15, S. 201-293 (1904).
Spearman, Charles: The Abilities of Man. Their Nature and Measurement. Nature 120, 1927, S. 181-183 (1927).