Machiavellistische Intelligenz: Intelligenz durch sozialen Wettbewerb?

Machiavellistische Intelligenz

Die Theorie der Machiavellistischen Intelligenz postuliert, dass sich die relativ großen Gehirne und die ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten des Menschen durch einen intensiven sozialen Wettbewerb entwickelt haben. Durch immer komplexer werdende soziale Strukturen und entsprechend komplexer werdende soziale Konkurrenz wurden ‚machiavellistische‘ Strategien ausgeformt und immer weiter perfektioniert. Die Beherrschung dieser Strategien sicherte soziale und reproduktive Erfolge.

Der Ausgangspunkt der Machiavellistischen Intelligenzhypothese

Das menschliche Gehirn hat sich deutlich schneller entwickelt als die Gehirne anderer Säugetiere. Vor 400.000 Jahren begann unser Gehirn seine Entwicklung. Auffällig ist, dass sich in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von 25 Millionen Jahren die Mutationen im menschlichen Genom häuften. Wie kam es zu einem so großen Entwicklungsschub in relativ kurzer Zeit? Und warum wurde gerade das menschliche Gehirn derart komplex?

Lange Zeit sah die Wissenschaft den Ursprung der kognitiven Kompetenzen des Menschen in der Fähigkeit zum aufrechten Gang und der Herausforderung der Werkzeugherstellung. Nach der Entwicklung des aufrechten Gangs hatten die Menschen die Hände zur freien Verfügung. Sie konnten Werkzeuge herstellen, mit sich tragen und in den unterschiedlichsten Situationen jederzeit nutzen. Diese Tätigkeiten hingen jedoch auch von ausreichenden geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Koordination ab. Man ging davon aus, dass die Fähigkeiten zur Herstellung von Werkzeugen und die Fähigkeiten der geistigen und körperlichen Koordination sich gegenseitig verstärkten und so zur Entwicklung eines komplexen Gehirns beitrugen.

Doch im letzten Jahrhundert kam eine weitere Erkenntnis ins Spiel: Beobachtungsstudien von Primaten in freier Wildbahn zeigten, dass unsere tierischen Verwandten häufig auf die Unterstützung von anderen Individuen angewiesen sind, um sich ihren Rang in der Gruppe zu erobern. Und sie nutzen dabei nicht selten ausgesprochen subtile Taktiken wie Hilfestellung bei Konflikten mit einem anderen Gruppenmitglied, Versöhnung nach einem Konflikt und Täuschungsmanöver, um andere Gruppenmitglieder auf ihre Seite zu ziehen und für ihre Zwecke einzuspannen.

Parallel zu diesen Beobachtungen der sozialen Komplexität der Primaten wurden Stimmen laut, die meinten, dass Primatengruppen einen Selektionsdruck zur Evolution der Kognition als Anpassung an die soziale Komplexität durchlaufen hätten. Es wurde argumentiert, dass die Intelligenz von Primaten und damit auch und vor allem des Menschen eine Anpassung vor allem an soziale Problemstellungen und Herausforderungen darstellt und der Vorausplanung sozialer Interaktion dient.

Bereits 1982 berichtete der niederländische Primatologe und Ethnologe Frans de Waal in seinem Buch ‚Chimpanzee Politics‘ von den Fähigkeiten der Primaten, sich erfolgreich „politisch“ mit sozialen Gruppen auseinanderzusetzen. Im Rahmen des Hinweises auf bestimmte soziale Interaktionen verwies er auf Machiavellis Politikbegriff. Die Machiavellistische Intelligenzhypothese, wie wir sie heute kennen, wurde schließlich 1988 formuliert. Aufgestellt wurde sie von den Psychologen Richard W. Byrne und Andrew Whiten in ihrem Werk ‚Machiavellian Intelligence Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes, and Humans‘.

Die Machiavellistische Intelligenzhypothese geht davon aus, dass ein besonders hoher Anstieg der kognitiven Anforderungen durch die Umgebung und das Erlebnis des sozialen Lebens ursächlich für die hervorstechende Entwicklung des menschlichen Gehirns ist. Ein intensiver Wettbewerb, sich häufende soziale Interaktionen, die Koexistenz und die Komplexität des Zwischenmenschlichen sollen einen Evolutionsdruck ausgelöst haben. Neue Herausforderungen, die an die Menschen durch ihre Umwelt und ihre Lebensweise gestellt wurden, erforderten Anpassung. Soziale Probleme erforderten Lösungen und vor allem das grundlegende Vorstellungsvermögen für den Entwurf von Lösungen. Oder anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit, einsichtiger und klüger zu sein als andere Mitglieder einer sozialen Gruppe erzeugte eine evolutionäre Dynamik, in der die Intelligenz als soziale Erkenntnisfähigkeit, also als Fähigkeit, soziale Probleme zu erkennen und zu lösen, entsteht.

Nach der machiavellistischen Intelligenzhypothese sind Lüge, Manipulation und Betrug der Garant für sozialen Erfolg und auch Zusammenarbeit, Vertrauen und Loyalität begründen sich letztendlich in einer Haltung, die einzig dem Überleben und der Fortpflanzung dient. Nach dieser Hypothese sind sowohl Betrug als auch Hilfe als intelligentes Verhalten anzusehen. Die Machiavellistische Intelligenzhypothese – auch als Social Brain Theory bekannt – interpretiert dabei selbst scheinbar altruistische Handlungen bei Primaten als eigennützige Taten – die Lösung sozialer Probleme wird vom Individuum aus gedacht.

Neuroanatomische Belege für die Machiavellistische Intelligenzhypothese

Bestimmte neuroanatomische Auffälligkeiten scheinen die Theorie der Machiavellistischen Intelligenz zu unterstützen. Im Vergleich zu anderen Tierarten ist das menschliche Gehirn relativ groß. Und auch andere Vertreter aus der Gruppe der Primaten haben im Verhältnis größere Gehirne als andere Säugetierarten. Dabei sind bei den Primaten genau genommen vor allem zwei Bereiche des Gehirns auffällig dimensioniert: der Neocortex und das Striatum.

Im Neocortex befinden sich die höchsten integrativen Gehirnfunktionen. Das Striatum ist für motorische und handlungsbezogene Aktivitäten zuständig. Ein „Wettstreit“ um die höchsten kognitiven Fähigkeiten, wie er im Sinne der Machiavellistischen Intelligenzhypothese stattgefunden haben soll, könnte zur Anhäufung von Nervenzellen in genau diesen Bereichen geführt haben.

Übrigens: Namenspate der Hypothese der machiavellistischen Intelligenz ist der Renaissance-Gelehrte Niccolo Machiavelli. Machiavelli analysierte die Formen von Machtausübung in und zwischen Staaten. Und damit nicht zuletzt die Macht, die Menschen über Menschen ausüben.

Betrug als Zeichen von Intelligenz?

Neben den neuroanatomischen Hinweisen führen Befürworter der Hypothese weitere Daten ins Feld. Richard W. Byrne und Nadia Corp haben die These im Laufe der Jahre mit einzelnen Phänomenen des Sozialverhaltens in Verbindung gebracht und so spezifiziert. Sie untersuchten zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der Größe von Gehirnen und betrügerischem Sozialverhalten. Denn die Fähigkeit zum Betrug wird von Vertretern der Machiavellistischen Intelligenzhypothese als Hinweis auf große kognitive Fähigkeiten gesehen.

Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich vor allem Primaten mit besonders großem Neocortex sind, die sich vermehrt des Betrugs als sozialer Taktik bedienen. Ob absolut oder relativ: Je größer der Neocortex einer Spezies, desto häufiger nutzt sie Betrug für einen sozialen Vorteil. In Bezug auf das gesamte Gehirnvolumen einer Spezies sowie in Bezug auf die Größe einer Gruppe konnte ein solcher Zusammenhang hingegen nicht hergestellt werden.

Kritik an der Machiavellistischen Intelligenzhypothese

Seit dem Zeitpunkt ihrer Entstehung wurde die Theorie der Machiavellistischen Intelligenz als Erklärung einer Vielzahl von Zusammenhängen herangezogen: Neurophysiologische, sozialanthropologische, medizinische und sogar politische Zusammenhänge wurden mit ihrer Hilfe erklärt und gedeutet. Und natürlich hatte die Hypothese großen Einfluss auf die Psychologie und auf Studien zur Evolution der Primaten. Die Idee, dass Intelligenz ihren Ursprung in sozialer Manipulation, Täuschung und kluger Zusammenarbeit hat, scheint vieles zu erklären, worüber lange gerätselt wurde. Diese Popularität kann natürlich einfach auf die Richtigkeit der Hypothese zurückzuführen sein. Es gibt jedoch Kritiker*innen der Theorie, die meinen, ihre Unbestimmtheit würde dazu beitragen, dass sie so vielen unterschiedlichen Erscheinungen gerecht werden konnte.

Kritiker*innen der Hypothese bemängeln, dass das Buch, das der Hypothese ihren Namen gab, keine wirklich klar umrissene Definition der Machiavellistischen Intelligenz liefert. Dies ist jedoch nicht unbedingt als Schwäche zu sehen. Es lässt sich auch derart deuten, dass die Machiavellistische Intelligenzhypothese nicht als eine präzise Theorie, sondern als ein Name für ein Bündel von Hypothesen zu verstehen ist, die zu einem großen Teil schon aktiv untersucht wurden, bevor die Bezeichnung der Machiavellistischen Intelligenz geprägt wurde. Alle diese Hypothesen haben eines gemeinsam: die Ansicht, dass der Besitz der kognitiven Fähigkeit, die wir als Intelligenz bezeichnen, mit dem sozialen Leben und seiner Komplexität in Zusammenhang steht.

Darüber hinaus wird häufig angemerkt, dass die Behauptung, große Gehirne seien mit sozialen Gruppen verbunden, zu sehr die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln als begrenzenden Faktor und die Größe sozialer Gruppen außer Acht lassen. Die Befürworter*innen der Machiavellistischen Intelligenztheorie hingegen sehen die Anforderungen, welche die Auseinandersetzung mit der Natur dem Menschen stellt, als Probleme, die nur eingeschränkt kognitive Ansprüche stellen und damit nur zu einer sehr begrenzten Entwicklung beitragen. Treibende Kraft für höhere intellektuelle Fähigkeiten ist ihnen zufolge die soziale Konkurrenz innerhalb einer Gruppe.

Einen Gegenpol zur Machiavellistischen Intelligenzhypothese stellt die Theory of Mind dar: Menschen können sich im Unterschied zu anderen Primaten in andere hineinversetzen und Wünsche, Intentionen oder Emotionen in sich wie in anderen erkennen. Kritiker*innen der Theorie der Machiavellistischen Intelligenzargumentieren, dass diese Fähigkeit nicht primär beim Verfolgen egoistischer Ziele Vorteile bringt, sondern vor allem einer effektiveren Kooperation dient. Die Theory of Mind hat sich in den letzten Jahren tatsächlich zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Machiavellistische Intelligenzhypothese entwickelt.

Eine weitere zentrale Kritik zielt auf das pessimistische Menschenbild, das hinter der These steht. Hier wird vor allem darauf verwiesen, dass es bestimmte soziale Phänomene nicht adäquat einfange und den Mensch auf seine meist als verwerflich interpretierten Qualitäten reduziere.

Quellen:
Byrne Richard W. & Whiten, Andrew (1988): Machiavellian Intelligence. Oxford University Press, Oxford.
Junker, Thomas (2006): Die Evolution des Menschen, C.H.Beck.
Byrne, Richard W.: Machiavellian intelligence: https://warwick.ac.uk/
fac/cross_fac/iatl/study/
ugmodules/humananimalstudies/lectures/
32/byrne_1996_3ut.pdf
(Zugriff am 06.11.2021)
Je größer das Hirn, desto betrügerischer: https://sciencev1.orf.at/news/117017.html (Zugriff am 07.11.2021)