Pierre Bourdieu, studierter Philosoph und in der Praxis als Soziologie tätig, gilt mit seinem Konzept des sozialen Raums und des Habitus als prägend für die Soziologie wie die Erziehungswissenschaft des 21. Jahrhunderts. Kernpunkt seines Gesamtwerks, das sich aus zahlreichen theoretischen wie empirischen Arbeiten zusammensetzt, ist die Erkenntnis, dass individuelle Lebensstile und -chancen massiv von der sozialen Herkunft eines Menschen geprägt sind. Bourdieu sieht gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsstrukturen als Ursache dieser Verbandelung von Herkunft und Chancen.
Sozialer Raum: Mehr als ökonomische Klassen
In der Soziologie herrschte lange Zeit ein relativ simples ökonomisches Klassen- oder Schichtmodell vor, das Menschen entlang ihrer Besitztümer in verschiedene Klassen oder Schichten einteilt. Dieses Modell wird auch heute breit rezipiert, etwa wenn wieder einmal das Schrumpfen der Mittelschicht beklagt wird. Bourdieu setzt sich in seinen Studien insbesondere mit der marxistischen Version eines Klassenmodells auseinander und kritisiert es als unzureichend für die Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Insbesondere die bloße Fokussierung auf den Bereich des Ökonomischen ist Gegenstand der Kritik Bourdieus.
Bourdieu weist mit seinen Studien nach, dass nicht bloß das ökonomische Kapital dafür verantwortlich ist, in welcher gesellschaftlichen Position sich ein Mensch befindet. Zur Veranschaulichung schuf er das Konzept des sozialen Raumes: Auf einem mehrdimensionalen Raster, das neben dem ökonomischen auch das kulturelle und das soziale Kapital eines Menschen darstellt, lässt sich die soziale Position sehr viel genauer bestimmen als in einem Klassen- oder Schichtmodell. Konkret bedeutet das, dass die gesellschaftliche Stellung eines Menschen nicht nur über seinen Besitz und sein Einkommen bestimmt ist, sondern auch durch sein Wissen und seine Bildung, durch seine erworbenen Bildungsabschlüsse (allesamt: kulturelles Kapital) und seine sozialen Beziehungen (soziales Kapital). Erst bei Betrachtung all dieser Faktoren lässt sich eine präzise Lagebestimmung im sozialen Raum vornehmen. Beispielsweise lassen sich auf diese Weise die beträchtlichen Unterschiede in der sozialen Position zwischen Lottogewinner*innen und Geschäftsführer*innen von Industrieunternehmen, die möglicherweise über ein ähnliches ökonomisches Kapitel, ergo: über ähnlich viel Geld, verfügen, abbilden, was mit einem rein ökonomischen Schicht- oder Klassenmodell nicht möglich ist.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Bourdieu den Klassenbegriff aufgibt. Er plädiert mit seinem Modell des sozialen Raums vielmehr für eine Neuinterpretation im Sinne eines differenzierteren Klassenmodells. So spricht er selbst weiterhin von Klassen, die er jedoch anhand der unterschiedlichen genannten Merkmale (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) sowie anhand weiterer empirisch ermittelter Faktoren ausmacht. Von Bedeutung ist dabei auch, dass die so ermittelten Klassen historisch kontingent sind: Bourdieu macht in seiner Studie Die feinen Unterschiede drei Hauptklassen mit insgesamt fünf Unterklassen aus, die er im Frankreich der 1960er-Jahre vorfindet. Heute haben sich die sozialen Verhältnisse entscheidend verändert, sodass das Bild heute ein deutlich anderes wäre – und möglicherweise eine andere Anzahl an Klassen mit anderen Unterscheidungslinien offenbaren würde.
Der soziale Raum ist nicht deterministisch gedacht
Diese historische Kontingenz der sozialen Struktur einer Gesellschaft zeigt auch, dass der soziale Raum nicht als statisch-deterministisch gedacht ist. Er ist vielmehr beständig in Bewegung bzw. Veränderung begriffen. Das bedeutet auch, dass die soziale Position einer Person nicht ein für alle Mal festgelegt ist. Bewegungen innerhalb des sozialen Raums sind möglich. Interessant ist dabei, dass auch die sozialen Mobilitäten mit Bourdieu deutlich differenzierter gedacht werden können. Ermöglichen klassische Schicht- und Klassenmodelle lediglich die Differenzierung zwischen einem Unten und einem Oben, können mit Bourdieu auch weitere Bewegungen beschrieben werden. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass als soziale Mobilität jede Veränderung der individuellen sozialen Lage gefasst werden kann – und nicht nur vermeintliche Ab- und Aufstiege.
Gleichzeitig beschreibt Bourdieu soziale Mobilität als äußerst schwierigen Prozess: „[W]enn ich sozial aufsteigen möchte, habe ich eine enorme Steigung vor mir, die ich nur mit äußerstem Kraftaufwand erklettern kann“ (Bourdieu, 1992; S. 37). Begründet liegt diese enorme Schwierigkeit sozialer Mobilität, insbesondere des sog. sozialen Aufstiegs, dabei nicht nur im Fehlen ökonomischer Ressourcen, sondern auch im klassenspezifischen Habitus.
Der Habitus als Kennzeichen der sozialen Herkunft
Das Konzept des Habitus ist über Bourdieus Werk hinaus prägend für das Verständnis sozialer Ungleichheit und die Rolle von Bildungsinstitutionen bei der (Re-)Produktion ebendieser geworden. Mit dem Begriff des Habitus beschreibt Bourdieu Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die für eine Klasse typisch sind. Konkret bedeutet das, dass unsere Art, die Welt wahrzunehmen, unsere Art, zu denken, unsere Interessen, Sprechweisen, Vorlieben usw. massiv geprägt sind durch unsere soziale Herkunft. Bourdieu selbst hat die Auswirkungen der sozialen Herkunft in einem Interview einmal sehr plastisch beschrieben: „Es gibt […] einen Zusammenhang zwischen höchst disparaten Dingen: Wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er liest, was er mag, welche Bekannten und Freunde er hat usw. – all das ist eng miteinander verknüpft“ (Bourdieu, 1992; S. 31f.). Als Band, das diese Dinge miteinander verknüpft, fungiert dabei die soziale Herkunft. Was Bourdieu aus seinen Beobachtungen rekonstruiert, lässt sich mit Sozialisationstheorien leicht erklären: In unserem Aufwachsen werden wir vorbereitet auf ein Leben in unserer Referenzgesellschaft – und diese unterscheidet sich in Abhängigkeit von der sozialen Klasse. Illustrieren lässt sich das leicht anhand von Beispielen: Wer – um in Frankreich zu bleiben – im reichen 16. Arrondissement von Paris aufwächst, wird umgeben sein von Menschen, die über vergleichsweise viel ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen. Er*Sie wird in der Folge auf das Leben in dieser Welt vorbereitet werden – mit geplantem Lyceebesuch, anschließendem Studium und Karriere in gehobener Position. Wer hingegen in den Banlieus von Paris aufwächst, ist mit einer völlig anderen sozialen Wirklichkeit konfrontiert, die vom Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital geprägt ist. Die Sozialisation als Anpassung an die soziale Wirklichkeit findet in einem anderen Rahmen statt – und zeitigt in der Folge andere Ergebnisse.
Der Habitus kann dementsprechend als eine Art Resultat von Sozialisationsprozessen verstanden werden. Bourdieu hebt jedoch hervor, dass er mehr als ein bloßes Produkt ist: Der Habitus prägt gleichzeitig unser Handeln in der Welt und damit soziale Praxis – er ist also nicht Endpunkt einer Entwicklung, sondern Dreh- und Angelpunkt. So ist es etwa der Habitus der Bezugspersonen eines Kindes, der entscheidend für seine Sozialisation und damit die Ausbildung seines Habitus ist; ferner entscheidet der Habitus erheblich über Lebenschancen und prägt damit Biographien wie überindividuelle Strukturen. Festhalten lässt sich damit, dass die soziale Wirklichkeit den Habitus schafft, der seinerseits wiederum soziale Wirklichkeit kreiert.
Habitus und soziale Ungleichheit
Entscheidend für die Betrachtung sozialer Ungleichheit, die bei Bourdieu immer zentral steht, ist bei alldem nicht der bloße Umstand, dass eine differierende soziale Herkunft zu einem differierenden Habitus führt. Es sind vielmehr die Folgen des Habitus, die Bourdieu hier in den Blick nimmt. Insbesondere ein Blick in den Bildungsbereich lohnt sich in diesem Zusammenhang. So weist Bourdieu etwa nach, dass im staatlichen Schulsystem ein ganz bestimmter Habitus gefordert ist und damit Bildungserfolge erheblich erleichtert: der des Bürgertums. Zu erklären ist das leicht, sind es doch vor allem Personen aus dem Bürgertum, die das System Schule in leitender Position betreiben – von den Lehrer*innen bis hin zu den Bildungsminister*innen. Markus Rieger-Ladich verweist in diesem Zusammenhang auf eine biographische Anekdote Bourdieus, die zur Illustration der Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem geeignet ist: „Bereits im Internat des nahe gelegenen Pau hatten seine Mitschüler, die aus bürgerlichen Familien stammten, ihn, den Jungen aus dem Dorf, der starken Dialekt spricht, ihre Herablassung deutlich spüren lassen“ (Rieger-Ladich, 2019; S. 112). Hieran lässt sich gut zeigen, dass der durch die soziale Klasse bestimmte Habitus den Schulerfolg beeinflusst: Wer zuhause mit Dialekt aufwächst und in der Schule Standardsprache sprechen soll, wird dort größere Schwierigkeiten haben als eine Person, die bereits zuhause in Standardsprache kommuniziert – und zwar völlig unabhängig von den sonstigen Kompetenzen. Auch der Reproduktionscharakter der sozialen Ungleichheit lässt sich an diesem Beispiel gut illustrieren: Dialekt sprechen primär Personen mit wenig kulturellem Kapital, deren Kindern es aufgrund dieser Folge des mangelnden kulturellen Kapitals ihrerseits erschwert wird, durch erfolgreiches Durchlaufen von Bildungseinrichtungen kulturelles Kapitel zu erwerben.
Auch die Orientierung der Schule an der bürgerlichen Lebenswelt wird durch das Dialektbeispiel unterstrichen, ist die Standardsprache sprachgeschichtlich doch letztlich das Resultat der zuvor bestehenden Sprechweisen der bürgerlichen Schichten. Bezüglich der deutschen Sprache hält etwa Ludwig M. Eichinger explizit fest, dass im 18. Jahrhundert „die bürgerliche Interaktion zum unbestrittenen Vorbild für vernünftiges Sprechen und Schreiben insgesamt wird“ (Eichinger, 2003; S. 51). Auch unabhängig von Bourdieu bestätigen aktuelle empirische Studien unterdessen den Dialekt als Faktor der Reproduktion sozialer Ungleichheit: Wer einen starken Dialekt oder Regiolekt spricht, verdient in Deutschland im Durchschnitt etwa 20 Prozent weniger als seine Kolleg*innen (Grogger et al.; 2020)
Daneben existieren selbstredend etliche weitere Habitusaspekte, die den Erfolg in Bildungsinstitutionen wie im Beruf erheblich beeinflussen können. Zu denken ist hier an ganz alltägliche Dinge wie den Kleidungsstil, die Kenntnis über kanonische Literatur, die Körperhaltung, die Art, Speisen zu sich zu nehmen, usw. Interessanterweise trägt auch der Vorname, der, da er letztlich Ausdruck eines Geschmacks ist, wiederum klassenspezifisch ist, erheblich zum Bildungserfolg bei, da er die Leistungserwartungen auf Seiten der Lehrer*innen beeinflusst. Eine Studie mit Grundschullehrer*innen ergab etwa, dass eine Sophie bessere Chancen hat als eine Chantal (vgl. Kube, 2009). Zurückzuführen ist das wiederum darauf, dass die Lehrer*innen ihrerseits mit höherer Wahrscheinlichkeit aus einer sozialen Schicht mit relativ großen ökonomischen und sozialen Ressourcen stammen und damit ihre Denk- und Wahrnehmungsmuster verinnerlicht haben. Anders gesagt: Ihr bildungsbürgerlicher Habitus prägt ihre Wahrnehmungs- und Bewertungsverhalten und damit die Chancen ihrer Schüler*innen.
Abschied vom meritokratischen Denken
Insgesamt bedeutet Bourdieus Habituskonzept mit seiner empirischen Untermauerung den notwendigen Abschied vom meritokratischen Denken: Die soziale Position ist nicht ausschließlich auf die individuelle Leistung(sfähigkeit) zurückzuführen, sondern in erheblichem Maße geprägt durch die Position im sozialen Feld, in die wir hineingeboren wurden. Etliche Begründungsfiguren für soziale Unterschiede, die primär auf die Eigenverantwortung wenig privilegierter Menschen abstellen, werden damit unhaltbar. Stattdessen rücken Bildungs- und andere Institutionen als Reproduktionsorte bestehender Ungleichheiten in den Blick.
Bourdieu und viele Erziehungs- und Sozialwissenschaftler*innen, die mit seinem Instrumentarium arbeiten, machen in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Machtstrukturen und ihre Rolle in der Reproduktion bestehender sozialer Ungleichheiten vielfach verschleiert werden. Für die Schule gilt das in besonderem Maße, propagiert sie doch Chancengleichheit – und macht Schüler*innen damit in letzter Konsequenz selbst für ihr Abschneiden verantwortlich. Theoretisch und empirisch kann mit Bourdieus Instrumentarium jedoch gezeigt werden, dass der Habitus, der nicht selbst verantwortet wird, mitentscheidend für den schulischen und beruflichen Erfolg ist, was auf die Hegemonie des bürgerlichen Habitus bzw. der bürgerlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata innerhalb der Bildungsinstitutionen zurückzuführen ist.
Quellen:
Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht.Schriften zu Politik und Kultur I. Hamburg.
Eichinger, Ludwig M. (2003): „Dialekt zwischen Sprachpflege, Sprachpolitik und Sprachwissenschaft“. In: Oberviechtacher Heimatkundliche Beiträge. S. 49-66.
Grogger, Jeffrey; Steinmayr, Andreas; Winter, Joachim (2020): „The Wage Penalty of Regional Accents”. In: National Bureau of Economic Research. Working Papers. Online verfügbar unter: https://www.nber.org/system/files/working_papers/w26719/w26719.pdf [15.08.23].
Kube, Julia (2009): Vornamensforschung: Fragebogenuntersuchung bei Lehrerinnen und Lehrern, ob Vorurteile bezüglich spezifischer Vornamen von Grundschülern und davon abgeleitete erwartete spezifische Persönlichkeitsmerkmale vorliegen. Oldenburg.
Rieger-Ladich, Markus (2019): Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg.