Transgenerationales Trauma – von einer Generation zur nächsten

Transgenerationales Trauma

Die psychischen Folgen eines Traumas können nicht nur das unmittelbare Opfer betreffen, sondern von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden – und das nicht nur über die Beziehungsebene. Es gibt Hinweise darauf, dass auch epigenetische Prozesse bei der Weitergabe der Auswirkungen von Traumata eine Rolle spielen. Der Gedanke, dass ein Trauma von Generation zu Generation hinweg von längst verstorbenen Verwandten bis zur jüngsten Generation regelrecht vererbt werden kann, ist ein schwer zu fassendes Konzept, das komplexe Fragen aufwirft und unser Verständnis von psychischer Gesundheit und menschlicher Resilienz herausfordert. Im Folgenden beleuchten wir den Stand der Forschung zum transgenerationalen Trauma ebenso wie mögliche Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen.

Psychosoziale Weitergabe von Traumata

Unter einem Trauma versteht man ein erschütterndes Ereignis, das in der Regel mit einer besonderen Bedrohung von Leib und Leben einhergeht. Wichtig ist dabei, dass nicht jedes traumatische Ereignis zu einer psychischen Erkrankung führt. Die Folgen sind im Einzelfall sehr unterschiedlich und von vielen Faktoren abhängig. Sichere Vorhersagen lassen sich daher nicht treffen. In vielen Fällen kann jedoch beobachtet werden, dass das Erleben eines Traumas Auswirkungen auf das Verhalten hat. Diese wiederum betreffen naheliegenderweise nicht nur die traumatisierte Person selbst, sondern auch ihr soziales Umfeld.

Sind Eltern traumatisiert, ist es daher nicht abwegig, dass ihre Kinder durch das Trauma betroffen werden. Eine traumatische Erfahrung kann sich etwa in Körperhaltung oder Mimik, durch das Zusammenzucken bei einem bestimmten Reizwort usw. zeigen – nicht immer sind die Verhaltensveränderungen der Betroffenen also drastischer Art. Doch auch kleinere Veränderungen genügen: Das Trauma der Betroffenen kann sich in ihrem Verhalten gegenüber den eigenen Kindern, auf den Umgang mit ihnen auswirken. Das gilt ganz besonders, wenn über das belastende Ereignis nicht gesprochen wird. In diesem Falle besteht die Möglichkeit, dass die Kinder für sie unerklärbare Veränderungen der Eltern feststellen: Warum ist die Mutter so gefühlskalt? Warum bricht beim Vater ständig die Wut durch? All das führt zu Verunsicherungen, teilweise sogar dazu, dass die Kinder die Schuld für die Verhaltensänderung der Eltern bei sich selbst suchen.

Das wiederum begünstigt – was unter anderem mit der dadurch gefährdeten Bindung zusammenhängt – das Entstehen psychischer Erkrankungen oder Labilitäten bei den Kindern. Ein Trauma wird hier also zwar nicht direkt weitergegeben, wirkt sich über die Beziehungsebene jedoch auf die psychische Gesundheit der Folgegeneration aus.

Daneben gibt es jedoch auch Hinweise darauf, dass sich Traumata auch auf biologischer Ebene ihren Weg von einer Generation zur nächsten bahnen, dass sie regelrecht vererbt werden können.

Trauma und Vererbung: Epigenetik als Schlüssel?

Die Grundidee des vererbten transgenerationalen Traumas ist, dass ein traumatisches Erlebnis eine chemische Markierung in den Genen der betroffenen Person hinterlassen kann, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Durch diese Markierung wird das Gehirn nicht geschädigt. Eine Mutation findet nicht statt. Doch wird ein Mechanismus verändert, mit dem das betroffene Gen in funktionierende Proteine umgewandelt, exprimiert wird.

Damit handelt es sich nicht um eine genetische, sondern um eine epigenetische Veränderung. Die Epigenetik beschäftigt sich als Teilgebiet der Biologie mit Prozessen auf zellulärer Ebene, die auf die Aktivität der Gene Einfluss nehmen und dabei nicht auf einer Veränderung der DNA-Sequenz beruhen. Sowohl innere Einflüsse wie Stress als auch äußere Einflüsse wie bestimmte Umweltbedingungen können Auswirkungen auf die Epigenetik haben.

Der Begriff der Epigenetik wurde vom britischen Entwicklungsgenetiker Conrad Hal Waddington eingeführt. An Bedeutung gewann das Gebiet der Epigenetik, als Wissenschaftler*innen feststellten, dass Kinder, die im Mutterleib dem niederländischen Hungerwinter, einer Hungerperiode in den Niederlanden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ausgesetzt waren, eine bestimmte chemische Markierung, eine epigenetische Signatur, auf einem ihrer Gene trugen. Diese bewirkte, dass die Kinder nach der Geburt eher kleiner heranwuchsen und weniger Nahrung benötigten. Durch die epigenetische Signatur hatte sich der Körper der Kinder auf eine Welt mit wenig Nahrung eingestellt. Später brachten die Forscher*innen diesen Befund mit Unterschieden in der Gesundheit der Kinder im späteren Leben in Verbindung. Neueste Studien deuten darauf hin, dass derartige epigenetische Veränderungen an die Folgegeneration weitergegeben werden. Sollten sich diese Ergebnisse reproduzieren lassen, würden sie darauf hindeuten, dass wir die Erfahrungen unserer Eltern und sogar Großeltern, insbesondere deren Leiden, in gewissem Maße erben, was wiederum unsere eigene Gesundheit im Alltag beeinflusst – und vielleicht auch die unserer Kinder und Kindeskinder.

Viele Indizien, keine Beweise

Liest man aktuelle Schlagzeilen zum Thema transgenerationales Trauma, bekommt man schnell den Eindruck, dass die Weitergabe epigenetischer Traumaspuren von einer Generation an die nächste als gesicherte Tatsache angenommen werden kann. Allerdings kann man bislang eher von einem Indizienprozess sprechen. Kritiker*innen behaupten, dass die Biologie, die in solchen Studien vorausgesetzt wird, wenig plausibel ist. Epigenetik-Forscher*innen sind hingegen davon überzeugt, dass ihre Beweise solide sind, auch wenn die dahintersteckenden biologischen Prozesse nicht komplett nachgewiesen sind. Fakt ist, dass bislang nicht genau erklärt werden kann, wie durch ein traumatisches Erlebnis verursachte epigenetische Veränderungen weitergegeben werden können. Bisher gehen Forscher*innen vielfach davon aus, dass im Rahmen der Bildung von Ei- und Spermienzellen eine Art Bereinigung stattfindet, im Rahmen derer die meisten chemischen Spuren in den Genen entfernt werden. Während die befruchtete Eizelle wächst und sich entwickelt, kommt es darüber hinaus zu zahlreichen genetischen Umstrukturierungen, in deren Verlauf sich die Zellen als Gehirnzellen, Hautzellen und andere Zellen spezialisieren. Es stellt sich also die Frage, wie die durch ein Trauma ausgelöste epigenetische Markierung diese Prozesse überdauern kann.

Zum Verständnis dieser angenommenen Übertragung von traumatischen Erfahrungen über Generationen hinweg hat die Forschung an Mäusen beigetragen. In einer Studie stellten Wissenschaftler*innen fest, dass Mäuse, die einem bestimmten Stressor ausgesetzt waren, nicht nur selbst Veränderungen in ihrem Verhalten zeigten, sondern dass auch ihre Nachkommen ähnliche Anpassungen aufwiesen. Dies konnte nicht auf erlerntes Verhalten zurückgeführt werden, da die nachfolgende Mäusegeneration nicht von den Eltern aufgezogen wurden. Natürlich können die Ergebnisse aus Mäusestudien nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen werden. Doch liefern die Mäusestudien wertvolle Einblicke in die möglichen Mechanismen, die bei der transgenerationalen Übertragung von Traumata eine Rolle spielen könnten. Eine mögliche Erklärung dafür, wie Traumamarker an den Samenzellen des Vaters entstehen könnten, stammt von Oliver Rando von der University of Massachusetts. In seinen Mäusestudien konzentrierte er sich auf die Nebenhoden der Mäuse. Hier sammeln sich in einer Röhre die Samenzellen vor der Ejakulation. Die Röhre produziert laut Rando „kleine RNAs“, Moleküle, die Veränderungen bewirken. Andere Forscher*innen vervollständigen die Hypothese mit der Theorie, dass diese RNAs bei der Empfängnis Veränderungen auslösen, die sich der Umstrukturierung während der frühen Entwicklung des Embryos entziehen. Andere Studien konzentrierten sich nicht auf kleine RNAs, sondern auf eine andere chemische Signatur, die so genannte Cytosin-Methylierung, die nach der Empfängnis und nicht vorher hinzugefügt werden könnte. Kritiker*innen können diese Hypothesen indes nicht abschließend überzeugen. Es gibt Veränderungen in den Hodenzellen, doch die Kausalitäten sind erst einmal reine Behauptungen. Zudem sind entsprechende Studien an Menschen weiterhin deutlich weniger überzeugend. Ein plausibler Mechanismus für die epigenetische Übertragung konnte bislang nicht aufgezeigt werden.

Auf die Vererbbarkeit epigenetischer Veränderungen weisen daneben jedoch auch Studien mit Fruchtfliegen hin. Ein Team des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik konnten bei diesen nachweisen, dass tatsächlich eine Weitergabe stattfand. Abschließend geklärt ist der Prozess damit jedoch keineswegs.

Transgenerationales Trauma therapieren

Auch wenn die Wissenschaft noch weit davon entfernt scheint, einen endgültigen Nachweis für die Vererbung eines Traumas erbringen zu können, hat die Vorstellung, dass wir eine biologische Spur der Leiden unserer Vorfahren in uns tragen, eine starke emotionale Anziehungskraft. Doch bis mögliche biologische Ursachen vollständig erklärt werden können und sich damit eventuell auch neue Ansätze zur Auflösung transgenerationaler Traumata auftun, ist vor allem die herkömmliche Traumatherapie als Intervention gefragt und es stehen weiterhin psychologische Pfade und Beziehungsdynamiken, durch die Traumata metaphorisch gesprochen weitergereicht werden können, im Vordergrund. Im systemischen Kontext müssen transgenerationale Auswirkungen von elterlichen Traumata als Teil der familiären Anpassung verstanden werden. Die Aufarbeitung eines transgenerationalen Traumas kann zunächst auch zur Recherchearbeit werden, wenn Erlebnisse der Ursprung sind, die lange Jahre unter den Teppich gekehrt wurden.

Eine transgenerationale Traumatisierung kann sehr gut mit den Methoden einer Traumatherapie behandelt werden. Weitere etablierte Behandlungsmethoden wie die Familientherapie oder die systemische Therapie sind ebenfalls hilfreich. Dabei wird jedoch im Rahmen der Therapie verstärkt die Biografie der Familie, die Kommunikation in der Familie und die Familienbeziehungen und Dynamiken in den Blick genommen. Hervorzuheben ist, dass die Auseinandersetzung mit dem transgenerationalen Trauma zu einer Umwertung der übertragenen Verletzungen führen kann. So haben Forscher*innen festgestellt, dass Nachkommen von Holocaust-Überlebenden häufig ein hohes Maß an Resilienz aufwiesen.

Zu beachten ist bei alldem jedoch auch, dass die Beeinflussung durch Traumata der Eltern keineswegs bedeuten muss, dass auch die Kinder an Traumata leiden. Ein solcher Zusammenhang ist nicht belegt. Eine höhere Anfälligkeit für psychische Erkrankungen liegt aus den beschriebenen Gründen zwar nahe; darüber hinausgehende Aussagen sollten jedoch mit großer Skepsis betrachtet werden, da ihnen zum jetzigen Zeitpunkt empirische Evidenz fehlt.

Quellen:
Alhassen, Sammy et al: Intergenerational trauma transmission is associated with brain metabotranscriptome remodeling and mitochondrial dysfunction. Published: 24 June 2021. Communications Biology 4, Article number 783 (2021). https://www.nature.com/articles/s42003-021-02255-2 (Zugriff am 21.02.2024)
Hime, Gary H., Stonehouse, Sophie L.A and Pang, Terence Y.: Alternative models for transgenerational epigenetic inheritance: Molecular psychiatry beyond mice and man. In: World J Psychiatry. 2021 Oct 19, 11 (10): 711-735. Published online 2021 Oct 19. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8546770/ (Zugriff am 21.02.2024)
Piesbergen, Christoph und Jakob, Marissa-Julia: Steckt die Seele in der DNA? Ein phänomenologisch-evolutionärer Ansatz zum Leib-Seele-Problem. https://epub.ub.uni-muenchen.de/71115/1/Piesbergen_Jakob_Steckt_die_Seele_in_der_DNA.pdf (Zugriff am 21.02.2024)
https://www.mpg.de/9375561/holocaust-vererbung-epigenetik (Zugriff am 20.02.2024)
https://taz.de/Auf-den-Spuren-der-Epigenetik/!5744490/ (Zugriff am 20.02.2024)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/trauma-traumata-transgenerational-generationen-100.html (Zugriff am 20.02.2024)
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https://www.mpg.de/11396064/epigenetik-vererbung (Zugriff am 02.03.2024)