Der Begriff des Traumas hat sich vor allem in den letzten 40 Jahren sowohl in der Psychologie als auch im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. Betroffene Menschen leiden dabei oft unter zahlreichen verschiedenen Symptomen, die ganz unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zugeordnet werden können. Bei der Erklärung dieses breit gefächerten Symptombilds greift man nicht selten auf den Begriff der Dissoziation zurück. In aktuellen Diagnosekatalogen findet man so beispielsweise Symptome wie Dissoziative Amnesie, Derealisation und Depersonalisation oder auch Dissoziative Fugue, die allesamt als Anzeichen für Traumata gelten. Das Problem hierbei: Vor allem in den letzten Jahren hat der Begriff der Dissoziation zahlreiche verschiedene, oft auch widersprüchliche Bedeutungszuschreibungen erfahren, sodass man sich auch in Fachkreisen über eine genaue Definition nicht mehr einig ist.
Kriege, Gewalt und Flucht sowie eine verstärkt sensibilisierte Gesellschaft sorgen heute dafür, dass die Begriffe Trauma und Dissoziation auch in öffentlichen Diskussionen immer öfter Platz finden. Diese Entwicklungen rufen nach einem einheitlichen Konzept, das Dissoziation und Trauma klar definiert, beide Begrifflichkeiten zueinander in Beziehung setzt und die Kommunikation – vor allem in Fachkreisen – erleichtert. In einer Artikelserie wollen wir uns den beiden eng verbundenen Konzepten des Traumas und der Dissoziation mit Hilfe der Theorie der Strukturellen Dissoziation nähern.
Den Grundstein für dieseTheorie legten Onno van der Hart, Ellert R.S. Nijenhuis und Kathy Steele mit ihrem Werk „Das verfolgte Selbst: Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung“ (Nijenhuis, Steele, van der Hart, 2008). Ihr Modell der Strukturellen Dissoziation vereint Pierre Janets Theorie mit moderneren Ansätzen der Psychologie, neueren Erkenntnissen der Neurowissenschaft sowie Ergebnissen und Beobachtungen aus der langjährigen Behandlung traumatisierter Patient*innen. Mit ihren Ergebnissen schaffen die drei eine fundierte Grundlage sowohl für das Verständnis als auch für die Behandlung chronischer Traumata wie damit verbundener, häufig als dissoziativ bezeichneter Zustände.
Pierre Janet: Grundlagen der Psyche
Mit seiner Theorie der Dissoziation betrieb Pierre Janet bereits Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Grundlagenarbeit, die auch heute noch Basis der Dissoziationsforschung ist. Um das Verständnis der Strukturellen Dissoziation in den folgenden Artikeln zu erleichtern, soll Janets Ansatz im Folgenden kurz zusammengefasst werden.
In seinem Leben sieht sich der Mensch zu jeder Zeit mit neuen Informationen konfrontiert. Unter normalen Umständen werden diese aufgenommen, mit den bereits vorliegenden, älteren Informationen synthetisiert und so integriert. Dieser Vorgang ist essenziell, damit das Individuum sich seiner sich ständig verändernden Umgebung anpassen kann. Das dynamische – oft auch als Prozess bezeichnete – Ganze, das bei dieser ständigen Integration entsteht, bildet die individuelle Persönlichkeit des Menschen.
Bei der Integration der neuen Informationen spielt ein weiteres Konzept Janets eine tragende Rolle: die Liste der Handlungstendenzen. Dafür hat er menschliche Handlungen nach Stärke der benötigten psychischen Energie gestaffelt. Die psychische Energie unterteilt er zusätzlich in psychische Kraft sowie psychische Spannung. Während erstere die Menge an mentalen Ressourcen beschreibt, die Tendenzen zu wirklichen Handlungen werden lässt, bezieht sich der Begriff der Spannung auf die Verteilung der Kraft. Je mehr Kraft vorhanden ist, desto mehr und höhere Handlungstendenzen könnten theoretisch ausgeführt werden; je mehr psychische Spannung vorhanden ist, desto besser ist die Reaktion auf das je spezifische Erlebnis zugeschnitten. Zu den niedrigeren Handlungstendenzen gehören psychomotorische Reaktionen, desorganisierte Bewegungen sowie Wahrnehmungs- und Verdrängungstendenzen. Weiter oben stehen hingegen Sprache, reflektierte Überzeugungen sowie rationale oder vorausschauende Tendenzen.
Um eine Information optimal zu integrieren, muss sie in das persönliche Selbst- und Lebensnarrativ aufgenommen werden – ihr muss ein Sinn verliehen werden. Diese Art der Reflexion gehört zu den höheren Handlungstendenzen, weshalb der Mensch ausreichend psychische Energie benötigt, um sie in eine Handlung umzusetzen.
Pierre Janet: Dissoziation
Was unter normalen Umständen gut funktioniert, ist bei belastenden Erlebnissen schwieriger. Mit dem Erlebnis einher gehen oft starke Emotionen, die einem emotionalen Schock nahekommen. Diese sorgen – stark abhängig von genetischen, Umwelt- und sozialisatorischen Faktoren – für einen Abfall der psychischen Spannung. Das wiederum sorgt dafür, dass im Moment des Ereignisses nur noch niedrigere Handlungstendenzen verfügbar sind. Handlungen, die für die Reflexion und Integration des Erlebten notwendig sind, können hingegen nicht mehr aktiviert werden. Dann kann mit Janet von einem Trauma gesprochen werden: Ein Trauma liegt vor, wenn die psychische Energie nicht ausreicht, um ein Ereignis zu reflektieren und ins bisherige Narrativ zu integrieren.
Wenn die Integration fehlschlägt, bleiben die Informationen getrennt vom Gesamtkomplex bestehen und entwickeln sich autonom weiter. Sie sind dann für Bewusstsein, Wahrnehmung und Willen des Menschen nicht mehr erreichbar – die Betroffenen unterliegen einer selektiven Amnesie. Diesen Vorgang nennt Janet Dissoziation, die dabei entstehenden Konstrukte fixe Ideen. Als starre Gedankenkomplexe beinhalten fixe Ideen all die Informationen, die mit dem traumatisierenden Erlebnis zusammenhängen. Dabei kann es sich um Bilder, Gedanken, Gefühle und sogar Körperhaltung und Bewegungen handeln. Sie besitzen meist eine hohe Emotionalität und können in Form von Träumen, Anfällen, somnambulenten Zuständen oder unerklärlichen Emotionen ihren Weg ins Bewusstsein finden.
Darüber hinaus besitzen sie ein eigenes Bewusstsein (mehr dazu in Janets Werk „Automatisme Psychologique“) und können von Fall zu Fall unterschiedliche Komplexitäten erreichen.
Bleibt die emotionale Überreizung über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen, wie es bei anhaltender (sexueller) Gewalt im eigenen Zuhause der Fall ist, wird die Integrationsfähigkeit immer weiter reduziert. So werden immer mehr fixe Ideen dissoziiert, die dann zu komplexen Bewusstseinszentren abseits des Hauptbewusstseins, also des vor der Traumatisierung einzig bestehenden Bewusstseins, verschmelzen. Entwickeln sich die fixen Ideen so weit, dass sie ein Eigenleben beginnen, von dem die Hauptpersönlichkeit keine Kenntnis hat, kann die betroffene Person in einen Zustand des sogenannten Somnambulismus verfallen – Janet meint damit nicht das Schlafwandeln, sondern verwendet den Begriff weitergefasst im Sinne einer Art Besessenheit. Die betroffene Person erlebt dabei eine „vollständige Besetzung […] durch eine oder mehrere sich abwechselnde fixe Ideen“ (Hantke, 1999; S. 79), an die sie sich später nicht mehr erinnern kann. Mit dem ‚Austreten‘ aus der fixen Idee beispielsweise durch einen bewusst herbeigeführten Bewusstseinswechsel endet auch der Somnambulismus wieder.
Häufen sich die somnambulenten Zustände, während parallel immer mehr fixe Ideen dissoziiert werden, entwickeln sich die abgespaltenen Bewusstseinszustände zu immer komplexeren Bewusstseinszentren. Neue Informationen werden zwar abgespalten, verbinden sich jedoch mit bereits vorhandenen, zuvor dissoziierten Informationen, sodass die Komplexität der isolierten Bewusstseinszentren immer weiter ansteigt. Durch das Vorliegen ‚alter‘, erinnerungsartiger und ‚neuer‘ Informationen entwickeln solch vielschichtige Systeme auch ein Gefühl der Persönlichkeit, das jedoch in keiner Verbindung zur ‚Haupt‘-Persönlichkeit steht. Diese Form der Persönlichkeitsentwicklung nennt Janet Doppelpersönlichkeit (heute meist Multiple Persönlichkeit oder Dissoziative Identitätsstörung). Betroffene können dabei über zwei Persönlichkeiten verfügen, aber auch größere Mengen sind möglich. Darüber hinaus variieren auch die Überschneidungspunkte zwischen den einzelnen Persönlichkeiten – am häufigsten ist Janet zufolge jedoch die einseitige Amnesie.
Janets Ausführungen bilden noch heute die Grundlage der Forschungen zur Strukturellen Dissoziation. Das bedeutet jedoch nicht, dass sämtliche Annahmen Janets durch empirische Belege gestützt werden.
Die Artikelserie Trauma erklären: Das Konzept der Strukturellen Dissoziation
Nachdem im vorliegenden Artikel die grundlegende Theorie Pierre Janets zur Dissoziation vorgestellt wurde, soll in den Folgeartikeln das weiterführende Konzept der Strukturellen Dissoziation aufgeschlüsselt werden. Der zentrale Bezugspunkt dafür wird nicht Janets Theorie, sondern vielmehr das Konzept von van der Hart, Nijenhuis und Steele bilden, die ihrerseits jedoch stark an Janets Ausführungen zum Trauma sowie zur Dissoziation anknüpfen. Eine Übersicht über die weiteren Artikel der Serie Trauma erklären: Das Konzept der Strukturellen Dissoziation wird hier folgen, sobald die Artikel online sind.
Quellen:
Hantke, Lydia (1999): Trauma und Dissoziation. Modelle der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen. Berlin. https://institut-berlin.de/wp-content/uploads/hantke_trauma-und-dissoziation.pdf.
Heim, Gerhard; Bühler, Karl-Ernst (2006): Psychological Trauma and Fixed Ideas in Pierre Janet’s Conception of Dissociative Disorders. https://www.researchgate.net/publication/6894021_Psychological_Trauma_and_Fixed_Ideas_in_Pierre_Janet’s_Conception_of_Dissociative_Disorders.
van der Hart, Onno; Nijenhuis, Ellert R.S.; Steele, Kathy (2008): Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn.