Depersonalisation und Derealisation: Wenn das Erleben auseinanderfällt

Depersonalisation und Derealisation

Aus dem Spiegel starrte ihr ein fremdes Gesicht entgegen… Was nach dem Einstieg in einen Roman klingt, ist für einige Menschen eine alltägliche Erfahrung. Wenn das eigene Gesicht fremd ist, die eigenen Bewegungen sich falsch anfühlen und das beklemmende Bewusstsein aufkommt, nicht zum eigenen Körper, nicht zu sich selbst zu gehören, wird in der Psychologie von Depersonalisation gesprochen. Verbunden ist sie häufig mit einem Fremdheitsgefühl, das sich auf die Umwelt bezieht – der Derealisation.

Was sind Depersonalisation und Derealisation?

In abgeschwächter Form macht wohl jeder Mensch einmal eine solche oder eine ähnliche Erfahrung. Bei großer Müdigkeit, intensiver Meditation oder enormem Stress fühlen sich auch Gesunde manchmal fremd im eigenen Körper oder neben-sich-stehend. Von Depersonalisation wird hingegen gesprochen, wenn dieses Erleben sich häuft und nicht auf eindeutige Auslöser zurückzuführen ist. Nicht selten werden die Betroffenen vom Einsetzen des Fremdheitserlebens regelrecht überrumpelt: Gerade noch haben sie ganz entspannt in der Bahn gesessen und plötzlich spiegelt sich in der Scheibe ein fremdes Gesicht oder die Beine, auf die schon eine ganze Weile der Blick gerichtet ist, sind plötzlich seltsam fremd.

Dieses Erleben ist meist bedrohlich. Bisher als absolut unantastbar verstandene Tatsachen werden radikal infrage gestellt. Das Auseinanderfallen der gefühlten Identität mit uns selbst und unserem Körper berührt ganz basale Aspekte unseres Lebens – was verständlich macht, dass Betroffene mitunter große Angst verspüren. Sie haben häufig Angst, verrückt zu werden und die Kontrolle über sich zu verlieren. Bei alldem ist die sog. Realitätsprüfung jedoch völlig intakt, was die Depersonalisation von psychotischem Erleben unterscheidet. Rational begreifen die Betroffenen, dass es sich um ihr Gesicht, um ihre Beine, um ihre Bewegungen oder um ihre Stimme handelt. Ihnen ist außerdem völlig klar, dass sie ihre Handlungen selbst steuern. Das Problem liegt eher auf der affektiven Ebene: Das damit für gewöhnliche einhergehende Gefühl ist abhandengekommen, weshalb die sich präsentierende Wirklichkeit nicht mehr als in sich stimmig erlebt wird.

Derealisation tritt häufig gemeinsam mit Depersonalisation auf. Die sie kennzeichnenden Phänomene sind ähnlich: Vertraute Umgebungen werden plötzlich als fremd erlebt. Manchmal erscheinen sie, als würde ein Schleier vor ihnen liegen. Manchmal erscheint alles wie im Traum oder verzerrt und leblos. Manchmal kann nicht einmal benannt werden, was genau anders ist. Auch hier gilt wieder, dass ein Bewusstsein darüber vorliegt, dass es sich um eine bekannte Umgebung handelt – was die Beklemmungsgefühle ob der gespürten Fremdheit verstärkt.

Was sind die Ursachen für diese Phänomene?

Aus welchen Gründen Depersonalisation und Derealisation auftreten, ist nicht abschließend aufklärbar. Es gibt jedoch einige verbreitete Theorien.

Die kognitiv-behaviorale Theorie

Die kognitiv-behaviorale Theorie geht davon aus, dass der Derealisation ein gewöhnliches Fremdheitserleben zugrundeliegt, das bei den allermeisten Menschen hin und wieder auftritt. Dieser Theorie zufolge schenken die Betroffenen diesem Erleben besondere Aufmerksamkeit, was zu Angst führt. Diese Angst wiederum verstärkt das Fremdheitsgefühl, was wiederum die Angst verstärkt usw. Letztlich wird hier also ein Teufelskreis der gegenseitigen Verstärkung angenommen, der ausgelöst wird durch eine besondere Aufmerksamkeit Veränderungen des eigenen Erlebens gegenüber.

Die psychodynamische Theorie

Die psychodynamische Theorie hingegen geht davon aus, dass Phänomene der Depersonalisation und der Derealisation als Abwehrmechanismen zu verstehen sind, die die Betroffenen vor dem Bewusstwerden unerträglicher Gefühle und Gedanken schützen sollen. Diese Inhalte werden aus Schutzgründen abgespalten, d.h. sie werden derart verstaut, dass sie nicht ins Bewusstsein drängen können. Diese Abspaltung führt jedoch zu einem Bruch in der Ich-Struktur, da hier nun ein mitunter wesentlicher Teil fehlt. Dieser Bruch wiederum zeigt sich im angstbehafteten Fremdheitsgefühl der Depersonalisation.

Die neurobiologische Theorie

In der Neurobiologie wird angenommen, dass die verstärkte oder verminderte Ausschüttung bestimmter Botenstoffe im Hirn die Phänomene verursacht.

Depersonalisation und Derealisation als Symptome anderer Erkrankungen

Darüber hinaus ist bekannt, dass Derealisation und Depersonalisation im Rahmen unterschiedlichster psychischer Erkrankungen auftreten können. Sie werden dann als Symptome dieser Erkrankung verstanden und verschwinden in der Regel mit der Beseitigung der Ursachen der zugrundeliegenden Erkrankung. Bekannt ist das Auftreten eines derartige Erlebens etwa bei der Depression, bei Angststörungen, bei Borderline, der posttraumatischen Belastungsstörung, der schizoiden und der schizotypischen Persönlichkeitsstörung, bei Zwangsstörungen oder bei ADHS. Aber auch bei Migräne, Epilepsie oder Störungen des Gleichgewichtsorgans kann es zu Depersonalisation und Derealisation kommen.