Bindungstheorie: John Bowlby und Mary Ainsworth

Bindungstheorie. John Bowlby und Mary Ainsworth

Der Begriff der Bindung hat es von der psychologisch-psychotherapeutischen Fach- längst in die Alltagssprache geschafft. Begriffe wie der der Bindungsangst sind den allermeisten Menschen heute geläufig. Hinter all diesem Vokabular steht jedoch weit mehr als bloße Küchenpsychologie. Der Kinderpsychiater John Bowlby und die Psychologin Mary Ainsworth entwickelten eine elaborierte Bindungstheorie, die Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik maßgeblich beeinflusste und – in modifizierter Form – bis heute wirkmächtig ist.

Grundlagen der Bindungstheorie: Bindung als angeborenes Bedürfnis

Ausgangspunkt der Bindungstheorie ist die Annahme, dass es sich beim Bedürfnis nach Bindung um ein menschliches Grundbedürfnis handelt. In der Bedürfnispyramide nach Maslow wäre es damit auf der untersten Stufe angesiedelt. Bowlby verstand das Bindungsbedürfnis – äquivalent etwa zum Hungerbedürfnis oder zur Libido – als angeboren und für den Menschen prägend. Als Bindung wird dabei eine enge und dauerhafte emotionale Beziehung zu einer anderen Person, bei Bowlby speziell zur Mutter, verstanden. Besonders für kleine Kinder, mit denen Bowlby arbeitete, ist Bindung lebensnotwendig: Alleine können sie nicht für sich sorgen und sind auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Diese wiederum wird durch den Aufbau von Bindung wahrscheinlicher. Diesem wiederum dient das sog. Bindungsverhalten, zu dem etwa Lächeln, Schreien, Klammern usw. gehören. Studien deuten darauf hin, dass dieses Verhaltensrepertoire angeboren ist: Es wird von allen Primaten im Kindesalter gezeigt. Damit kann ein Bezug zur Evolutionstheorie Darwins hergestellt werden; das Bindungsverhalten kann als dem Überleben des Individuums und damit der Spezies förderlich verstanden werden. Bowlby selbst stellte diesen Bezug heraus und reflektierte ihn ausführlich.

Wie genau das Bindungsverhalten sich entwickelt, ist Bowlby und Ainsworth zufolge abhängig von der prägenden Bindungsperson. Das Kind passt sich, da es von der Bindungsperson abhängig ist, dem beobachteten Verhalten ebendieser an. Bowlby fokussierte sich hierbei wiederum auf die Mutter-Kind-Beziehung und ging davon aus, dass diese sich vor allem in den ersten sechs Lebensmonaten formt. Danach ist das Bindungsverhalten des Kindes zwar nicht völlig starr, in seinen Grundmustern jedoch ausgebildet. Der frühkindlichen Bindung kommt damit eine zentrale Bedeutung für die gesamte soziale Lebensgestaltung zu: Wie Menschen sich in sozialen Kontexten verhalten, wird der Bindungstheorie folgend, maßgeblich beeinflusst durch Erfahrungen der ersten Lebensmonate.

Bowlby hatte sich auf die Erforschung der frühkindlichen Bindung konzentriert, nachdem er mit als verhaltensauffällig klassifizierten Jugendlichen gearbeitet und dabei festgestellt hatte, dass bei einem bedeutenden Teil der Jugendlichen eine Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Beziehung feststellbar war.

Der Fremde-Situation-Test

Ainsworth entwickelte mit dem Fremde-Situation-Test ein Standardverfahren zur Einschätzung des Bindungsverhaltens von Kindern. Hierüber soll ermittelt werden, wie die Bindung des jeweiligen Kindes gestaltet ist, welchen Strategien es folgt und damit, welche Bindungsmuster es verinnerlicht hat. Hieraus wiederum lassen sich – das zeigt die neuere Bindungsforschung – Rückschlüsse auf die wahrscheinliche weitere Entwicklung des Kindes ziehen.

Im Rahmen des Fremde-Situation-Tests werden die Kinder, die elf bis achtzehn Monate alt sind, gemeinsam mit ihrer Bindungsperson und einer Testperson in einen ihnen unbekannten Raum geführt. Die Bindungsperson verlässt den Raum daraufhin und kehrt nach einer gewissen Zeit zurück. Das Verhalten der Kinder wird aufgezeichnet.

Vier Bindungstypen

Ainsworth konnte mit dem Testverfahren drei typische Verhaltensmuster identifizieren, die sie als Bindungstypen bezeichnete. Diese drei Bindungstypen wurden später durch Mary Main, Judith Solomon und T. Barry Brazelton um die vierte Kategorie der desorganisierten Bindung ergänzt.

Sichere Bindung

Sicher gebundene Kinder beginnen beim Verlassen des Raumes durch die Bindungsperson zu weinen und zu schreien. Sie wollen ihr folgen und lassen sich von der Testperson nicht oder nur geringfügig trösten. Kehrt die Bindungsperson zurück, suchen sie Körperkontakt und beruhigen sich daraufhin schnell wieder. Anschließend zeigen sie ein ausgeprägtes Explorationsverhalten: Sie beginnen, den Raum zu erkunden und mit der Testperson zu interagieren. Etwa 60 bis 70 Prozent der Kinder sind sicher gebunden. Der Kinderarzt William Sears hat aufbauend auf den Grundgedanken Bowlbys und Ainsworths das Konzept der sog. bindungsorientierten Erziehung entworfen, das mit Handlungsanleitungen für die Erziehung das Schaffen einer sicheren Bindung anstrebt, in vielerlei Hinsicht jedoch problematisch ist.

Unsicher-vermeidende Bindung

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder zeigen bei der Trennung von der Bindungsperson kaum Emotionen. Kehrt die Bindungsperson zurück, ignorieren sie sie häufig. Stattdessen erkunden sie den Raum und präferieren die Interaktion mit der Testperson. Etwa zehn bis fünfzehn Prozent der Kinder sind unsicher-vermeidend gebunden.

Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass der Cortisolspiegel bei unsicher-vermeidend gebundenen Kindern in der Testsituation gegenüber dem sicher gebundener Kinder erhöht ist. Das wiederum ist ein zentraler Indikator der körperlichen Stressreaktion. Zurückgeführt wird das unsicher-vermeidende Bindungsverhalten auf negative Bindungserfahrungen: Die Kinder wurden von ihren Bezugspersonen häufig zurückgewiesen und haben sie nicht als verlässlich erlebt. Ihre Lösung besteht in Beziehungsvermeidung. Auffällig ist, dass eine unsicher-vermeidende Bindung von Erwachsenen in Deutschland signifikant positiver eingeschätzt wird als in anderen westlichen Ländern. Zurückzuführen sein könnte das auf das tradierte Erziehungswissen aus der NS-Zeit, das stark auf Zurückweisung setzte, um einen spezifischen Kindertypus, der durch Emotionslosigkeit und Härte gekennzeichnet ist, hervorzubringen (vgl. Kratzer).

Unsicher-ambivalente Bindung

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder wirken durch die Trennung stark verunsichert, weinen, schreien, laufen zur Tür und schlagen gegen diese. Beruhigen lassen sie sich nicht. Kehrt die Bindungsperson zurück, klammern sie sich häufig an sie und zeigen kein Explorationsverhalten. Mit der Testperson interagieren sie kaum. Etwa zehn bis fünfzehn Prozent der Kinder sind unsicher-ambivalent gebunden.

Auch bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern steigt der Cortisolspiegel gegenüber sicher gebundenen Kindern stärker. Zu beobachten ist ferner, dass das Bindungsverhalten früher als bei anderen getesteten Kindern, nämlich bereits vor dem Zurückgelassenwerden im Raum, aktiviert wird. Zurückgeführt wird das Bindungsverhalten dieser Kinder auf unzuverlässiges und schwer einschätzbares Verhalten der Bezugspersonen. Das Kind kann nicht verlässlich vorhersagen, wie seine Bezugsperson in einer bestimmten Situation reagieren wird. Aus diesem Grund ist das Kind permanent damit beschäftigt, die Stimmung und die Wünsche der Bezugsperson zu ermitteln, um auf eine Weise reagieren zu können, die die Bindung sichert.

Desorganisierte Bindung

Desorganisiert gebundene Kinder zeigen keine erkennbaren Bewältigungsstrategien. Sie erstarren und zeigen hilflos-ohnmächtiges Verhalten. Ihr Verhalten ist unerwartet, schwer abschätzbar und häufig paradox. So kann etwa beobachtet werden, dass sie teilweise nach der Bezugsperson schreien, sie bei ihrer Rückkehr jedoch ignorieren. Eingeführt wurde dieser vierte Bindungstyp für all jene Kinder, die nicht eindeutig den drei anderen Kategorien zugeordnet werden konnten. Ainsworth selbst hatte sie meist als sicher gebunden klassifiziert, obwohl ihr Verhalten deutlich von dem unter sicherer Bindung verstandenen abweicht. Etwa fünf bis zehn Prozent der Kinder sind desorganisiert gebunden.

Erklärt wird die desorganisierte Bindung durch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Bindungsstrategie zu entwickeln. Angeführt wird hierfür in der Regel der Fall einer Bindungsperson, die als solche einerseits Schutzquelle, andererseits jedoch auch eine Bedrohung für das Kind ist – etwa bei Missbrauch in der Familie. Eine weitere Erklärung für desorganisiertes Bindungsverhalten, die vielfach angeführt wird, ist die Traumatisierung der Bindungsperson: Verhält sie sich aufgrund ihrer Traumata verängstigt, nimmt das Kind zwar die Angst wahr, kann jedoch keine Quelle ebendieser ausmachen; es entwickelt selbst Angst, auf die die Bezugsperson ihrerseits aufgrund der Nicht-Einordbarkeit nicht angemessen reagieren kann. Das Kind erlebt die Welt damit als unsicheren Ort und Angst als Grundgefühl.

Vorhersagekraft der Bindungstypen

Wie bereits erwähnt wurde, lassen sich ausgehend vom ermittelten Bindungstypen auf statistischer Basis einige Vorhersagen hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Kindes treffen. So zeigt sich etwa, dass delinquente Menschen überdurchschnittlich häufig unsicher oder desorganisiert gebunden sind. Sicher gebundene Kinder zeigen hingegen in Kindergarten und Schule mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gesellschaftlich als angenehm bewertetes Sozialverhalten: Sie sind kaum aggressiv, unabhängig, beliebt, weisen eine hohe Sozialkompetenz auf, können ihre Emotionen selbstständig regulieren und verfügen über ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl (vgl. Bodenmann).

Studien weisen ferner auf einen Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und der Entwicklung einer Depression hin. Auch bei Essstörungen konnte in Studien ein Zusammenhang gefunden werden (vgl. Bodenmann). Hier zeigt sich der enorme Einfluss der Bindungstheorie auf die klinische Psychologie: Erkenntnisse zum Bindungsverhalten lassen Rückschlüsse auf die Entstehungsbedingungen und -risiken einiger psychischer Erkrankungen zu.

Bindungstypen und Bindungsstörungen

Die Bindungstypen sind von den Bindungsstörungen zu unterscheiden. Diese stellen eine weitere Klassifizierung dar, innerhalb derer auf andere Weise diagnostiziert wird. Nichtsdestotrotz kann festgestellt werden, dass unsicher und vor allem desorganisiert gebundene Kinder mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer Bindungsstörung erhalten – da erhebliche Überschneidungen in den Beschreibungen existieren. Bei den Bindungsstörungen wird zwischen einer reaktiven (auch: gehemmten) und einer ungehemmten Form unterscheiden. In beiden Fällen zeigen die Betroffenen ein paradoxes Beziehungsmuster aus Annäherung und Vermeidung, eine eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen, Auffälligkeiten beim Spielen mit anderen sowie gegen sich selbst und/oder gegen andere gerichtete Aggressionen. Hinzu kommen Furchtsamkeit, Übervorsichtigkeit, wenig emotionale Reaktionen, Apathie sowie eine aufmerksame, aber emotional unbeteiligte Beobachtung der Umwelt (sog. frozen watchfulness). Bei der ungehemmten Form kommt es in bestimmten Situationen zusätzlich zu Distanzlosigkeit: Die Betroffenen unterscheiden nicht zwischen Bindungspersonen und Fremden. Sie reagieren auf Fremde mit offenem und bindungssuchendem Verhalten. Bei der Trennung von ihren Bindungspersonen sind sie emotional unterdessen wenig betroffen.

Intergenerationale Weitergabe des Bindungsverhaltens

Zu beobachten ist – und das ist naheliegend – eine intergenerationale Weitergabe des Bindungsverhaltens. Konkret bedeutet das, dass ihrerseits sicher gebundene Bindungspersonen mit hoher Wahrscheinlichkeit sicher gebundene Kinder, ihrerseits unsicher gebundene Bindungspersonen hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit unsicher gebundene Kinder haben. Zurückzuführen ist das auf den Umstand, dass das Bindungsverhalten sich in der Interaktion mit der ersten zentralen Bindungsperson im Leben des Kindes entwickelt. Ist die Bindungsperson aufgrund ihrer eigenen Bindungs- und Interaktionsmuster nicht in der Lage, auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes einzugehen und ihm Sicherheit sowie Stabilität zu vermitteln, wird das Kind keine sichere Bindung ausbilden können.

Die unsichere Bindung gilt darüber hinaus als Risikofaktor für die Entwicklung zahlreicher psychischer Erkrankungen. Hierin liegt eine mögliche Erklärung für die Beobachtung, dass als psychisch erkrankt geltende Eltern mit höherer Wahrscheinlichkeit denn als gesund geltende Eltern als psychisch krank klassifizierte Kinder haben: Psychische Erkrankungen und unsicheres Bindungsverhalten stehen in einem reziproken Beeinflussungsverhältnis.

Quellen und Weiterführendes:
Ainsworth, Mary; Waters, Everett; Blehar, Mary C.; Wall, Sally (1978): Patterns of attachment. A psychological study of the strange situation.
Bodenmann, Guy (o.J.): Bindung und psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Online verfügbar unter: https://www.psychologie.uzh.ch/dam/jcr:21ac26f6-b2b9-41fd-9df8-693f1900eef9/03_Bindung%20und%20kindliches%20Befinden%20(Handout%20Bodenmann).pdf [30.09.22].
Bowlby, John (1944): “Forty-four juvenile thieves: their characters and home-life”. In: The International Journal of Psychoanalysis. 25. S. 19–53.
Kratzer, Anne (2019): “Erziehung für den Führer“. In: spektrum.de. Online verfügbar unter: https://www.spektrum.de/news/paedagogik-hitlers-einfluss-auf-die-kindererziehung/1555862 [30.09.22].