Bindungsorientierte Erziehung

Bindungsorientierte Erziehung

Die bindungsorientierte Erziehung – auch Attachment Parenting genannt – ist ein Erziehungsstil, der auf der Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth basiert. In der Bindungstheorie werden drei verschiedene Bindungsstile unterschieden. Und die Theorie geht von der Annahme aus, dass die Art der Bindung der Kinder an ihre Eltern einen dauerhaften Einfluss auf die emotionale Entwicklung des Kindes und seine späteren Beziehungen hat. Die bindungsorientierte Erziehung versucht, praktische Handlungsanweisungen bzw. Tools aus der Bindungstheorie abzuleiten, um damit die emotionale Entwicklung der Kinder positiv zu beeinflussen.
Das Attachment Parenting legt den Fokus auf den Aufbau physischer und emotionaler Bindungen zwischen Eltern und Kind durch bestimmte „Werkzeuge“, Tools. Diese Werkzeuge sollen ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, Reaktionsfähigkeit und körperlicher Berührung fördern. Ziel ist es, sowohl das Vertrauen der Eltern als auch das des Kindes zu stärken und eine sichere Bindung aufzubauen. Zu diesem Zweck sollen Eltern lernen, die Signale ihres Babys richtig zu erkennen und zeitnah darauf zu reagieren. Das Kind soll die Gewissheit haben, dass seine Bedürfnisse erfüllt werden.

Grundprinzipien der Bindungsorientierten Erziehung

Im Folgenden werden die Werkzeuge vorgestellt, die für das Attachment Parenting maßgeblich sind und dessen Grundlage bilden. Da die englischen Bezeichnungen für diese sieben Werkzeuge alle mit dem Buchstaben B beginnen, spricht man auch von den ‚Baby Bs‘.
Begründet wurde der bindungsorientierte Erziehungsstil im Jahr 1982 durch den US-amerikanischen Kinderarzt William Sears. Sears geht davon aus, dass für den Aufbau einer sicheren Bindung Nähe und das Stillen von Bedürfnissen grundlegend sind.

Bindung kurz nach der Geburt (Birth Bonding)

Die Bindungsorientierte Erziehung geht davon aus, dass schon die ersten Schritte zwischen Eltern und Baby bedeutsam sind. Bereits unmittelbar nach der Entbindung und in den folgenden sechs Wochen werden die Weichen für eine gesunde langfristige Eltern-Kind-Bindung gestellt. Wichtig ist in diesem Sinne vor allem der Haut-zu-Haut-Kontakt. Das Baby wird der Mutter – oder dem Vater – nach der Geburt sofort auf den kleidungsfreien Oberkörper gelegt. Zudem spielen die Zwei- bzw. Dreisamkeit zwischen Eltern und Baby in der ersten Zeit nach der Geburt sowie ein hohes Maß elterlicher Fürsorge für den Säugling eine wichtige Rolle.

Stillen (Breastfeeding)

Im Rahmen der bindungsorientierten Erziehung wird das Stillen als ein wesentlicher Weg angesehen, um das Baby nicht nur gesund zu ernähren und zu beruhigen, sondern auch, um darüber hinaus für ausreichend Körperkontakt zu sorgen. Stillen fördert körperliche Berührungen und die Möglichkeit, spontan auf das Nahrungsbedürfnis des Säuglings zu reagieren. Darüber hinaus setzt der Körper der Mutter durch das Stillen Hormone frei. Darunter das Oxytocin. Oxytocin wirkt stressreduzierend und aktiviert das Belohnungssystem. Damit trägt Oxytocin zum Wohlbefinden der Mutter bei. Darüber hinaus stärkt Oxytocin das Fürsorgegefühl.
Kann oder möchte eine Mutter nicht stillen, kann das Bedürfnis nach Nähe durch Tragen, Kuscheln und Hautkontakt gestillt werden.

Tragen (Babywearing)

Auch über die Stillbeziehung hinaus setzt das Attachment Parenting auf möglichst viel Körperkontakt. Dazu gehört auch das Tragen des Babys. Hier liegt der Vorteil darin, dass diese Form des Körperkontakts es auch dem Vater ermöglicht, besonders viel Nähe zum Säugling herzustellen und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Während das Baby getragen wird, kann es auf sichere Weise seine Umgebung kennenlernen.

Gemeinsames Schlafen (Bedding close to Baby)

Mit dem Baby und Kleinkind im Familienbett zu schlafen, ist ein weiteres Tool der bindungsorientierten Erziehung. Das Familienbett soll auch dabei helfen, wieder mehr Nähe herzustellen, wenn diese tagsüber zu kurz gekommen ist – zum Beispiel, weil die Eltern sehr beschäftigt waren. Darüber hinaus reduziert das Familienbett nächtliche Trennungsängste. Durch die Begleitung beim Einschlafen erfährt das Kind, dass der Übergang vom Wach- zum Schlafzustand eine angenehme Erfahrung ist.

Glaube an den Sprachwert der Schreie deines Babys (Belief in the language value of your baby’s cry)

Die bindungsorientierte Erziehung geht davon aus, dass es wichtig ist, auf die Schreie eines Babys zu reagieren. Denn beim Attachment Parenting wird das Weinen des Babys als Ausdruck eines Bedürfnisses und als Form der Kommunikation betrachtet – und nicht wie bei anderen Erziehungsstilen als eine Form der Manipulation. Wer bindungsorientiert erzieht, reagiert zeitnah und einfühlsam auf jeden Schrei des Babys, um das wachsende Vertrauen zwischen Säugling und Bezugsperson zu fördern und den Kommunikationsstil des Babys zu erlernen.

Sich vor Baby-Trainings in Acht nehmen (Beware of baby trainers)

Frischgebackene Eltern erhalten eine Menge Ratschläge – viele davon ungefragt. Und ein beliebtes Geburtsgeschenk sind Ratgeber zu den Themen Füttern, Schlafen und Entwicklungsförderung. Viele Eltern kaufen sich auch selbst Nachschlagewerke, um sich auf das Zusammenleben mit dem Kind und auf das Zusammenwachsen als Familie vorzubereiten. Sears empfiehlt, kritisch zu bleiben. Dies gilt besonders, wenn es um extreme Erziehungsstile geht und darum, strikt auf einen Zeitplan zu achten. Denn diese Methoden hindern Eltern daran, herauszufinden, was für das Kind und die Familie am besten passt.

Balance (Balance)

Sich um ein Baby zu kümmern, ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Diese erfordert, dass es auch der Betreuungsperson gut gehen muss – nur dann kann sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Zudem mag es noch relativ einfach sein, den Bedürfnissen eines Säuglings stets sofort nachzukommen, wenn es das erste Kind ist; doch sind Geschwister oder vielleicht pflegebedürftige Großeltern mit im Haus, gilt es, auch deren Bedürfnissen gerecht zu werden. Dies macht ein sofortiges Reagieren auf die Bedürfnisse des Babys manchmal schwierig und es muss abgewogen werden.

Wunsch und Bedürfnis in der bindungsorientierten Erziehung

Kritiker*innen der bindungsorientierten Erziehung behaupten, dass die ständige Aufmerksamkeit für jede Laune und jeden Wutanfall eines Kindes zu übermäßig abhängigen Kindern und stark gestressten Eltern führen kann. Oder schlimmer noch: Kinder lernen, ihre Eltern zu kontrollieren und zu schikanieren. Und viele Eltern fühlen sich tatsächlich überfordert, wenn sie einem bindungsorientierten Erziehungsstil nachgehen. Doch all dies basiert letztendlich auf einem Missverständnis. Ein häufiges Missverständnis um die bindungsorientierte Erziehung ist, dass die Erfüllung von Bedürfnissen als absolut gehandelt wird. In diesem Fall wird der Punkt Balance ausgeklammert. Es geht nicht darum, sich als Eltern zwischen den Bedürfnissen der Kinder aufzureiben, sondern einen realistischen Weg zu finden, allen gerecht zu werden und dabei auch einmal ‚Nein‘ zu sagen und bei Bedarf Verantwortung vorübergehend abzugeben – beispielsweise, wenn das Kind in einer Krippe oder von den Großeltern betreut wird. In Hinblick auf die Balance wird zudem gerne auf die Unterscheidung von Wunsch und Bedürfnis hingewiesen. Denn es soll zwar den Grundbedürfnissen Nahrungsaufnahme, Schlaf und Nähe nachgekommen, doch nicht jeder Wunsch erfüllt werden. Dies kommt vor allem bei Kindern zum Tragen, die das Säuglingsalter überschritten haben – bei älteren Babys und Kleinkindern. Weint ein Kind, weil es den Spielplatz nicht verlassen will, steckt dahinter der Wunsch, noch länger dort zu spielen. Weint ein Kind vor Müdigkeit, liegt hingegen ein Bedürfnis zugrunde, das Bedürfnis, in den Schlaf zu finden.
Mit zunehmendem Alter des Kindes wird die Unterscheidung von Wunsch und Bedürfnis komplexer. Und es ist für die Eltern manchmal schwierig, die Grundbedürfnisse hinter einer Äußerung zu erkennen. So fängt ein Kind vielleicht vordergründig wegen einer vermeintlichen Kleinigkeit zu weinen an. Die Eltern sind geneigt, nicht nachzugeben. Dabei ist das Kind eigentlich einfach übermüdet und kann aus diesem Grund seine Gefühle weniger leicht regulieren. Die Lösung läge darin, ihm in Bezug auf das Grundbedürfnis Schlaf weiter zu helfen – zum Beispiel durch Tragen oder Kuscheln.

Kritik an der bindungsorientierten Erziehung

Doch nicht nur aufgrund der oben beschriebenen Missverständnisse steht die bindungsorientierte Erziehung in der Kritik.

Nähe oder Sicherheit?

Umstritten ist darüber hinaus der Ansatz des Familienbetts. Kritiker*innen sind besorgt über das Teilen des Betts, da es mit dem plötzlichen Kindstod (SIDS) in Verbindung gebracht wird. So empfehlen die von der American Academy of Pediatrics (AAP) herausgegebenen Richtlinien für einen sicheren Schlaf, dass das Baby mindestens sechs Monate und bis zu einem Jahr im selben Zimmer schläft wie die Eltern, aber auf getrennten Schlafplätzen. Die AAP stellt fest, dass die gemeinsame Nutzung eines Zimmers das SIDS-Risiko um 50 Prozent senken kann; die gemeinsame Nutzung eines Bettes kann es jedoch erhöhen.

Ist Bindung eine stabile Eigenschaft?

Zudem betrachten einige Entwicklungspsycholog*innen die Bindung nicht mehr als Eigenschaft. Im psychologischen Sinne ist eine Eigenschaft ein mehr oder weniger dauerhaftes, lebenslanges Merkmal. Doch es gibt Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass die Fähigkeit, gesunde, intime Bindungen aufzubauen, durch den Druck von Gleichaltrigen, Beziehungen in der Schule, bei Verabredungen und in der Ehe beeinflusst wird – und zwar ebenso stark wie durch frühkindliche Erfahrungen. Die Bedeutung der frühkindlichen Bindung wäre damit weniger stark als von Sears und anderen Bindungstheoretiker*innen angenommen.

Forschung auf den neuesten Stand bringen

Die Bindungstheorie entstand in den 1950er-Jahren und damit vor der Etablierung einer Kinderbetreuung durch Tagesmütter, Kinderkrippen oder Kindertagesstätten. In den 1950er-Jahren wurde darüber debattiert, ob Mütter zu Hause bleiben sollten oder nicht, und allgemein wurde die Mutter als Hauptbezugsperson und Hauptverantwortliche für das Kindeswohl gesehen. In jüngerer Vergangenheit waren mehr Kinder durch die Kinderbetreuung außerhalb der Familie mehreren verschiedenen, doch relativ konstanten Bezugspersonen ausgesetzt. Unter Kritiker*innen wird die Forderung laut, die Bindungsforschung zu aktualisieren und den veränderten Umständen Rechnung zu tragen. Das gilt auch für die insgesamt stark an der heterosexuellen Zwei-Personen-Familie mit traditionellen sozialen Rollen orientierte Ausrichtung der klassischen bindungsorientierten Erziehung. Eine Anpassung an die heutige Zeit könnte zu neuen oder erweiterten Ansätzen bei der bindungsorientierten Erziehung führen.

Quellen:
https://www.askdrsears.com/topics/parenting/attachment-parenting/ (Aufgerufen am 18.11.2022)
Divecha, Diana (2018): „Why Attachment Parenting is not the Same as Secure Attachement“. In: Greater Good Magazine. Online verfügbar unter: https://greatergood.berkeley.edu/article/item/why_attachment_parenting_is_not_the_same_as_secure_attachment (Aufgerufen am 18.11.2022)
https://www.aap.org/en/patient-care/safe-sleep/ (Aufgerufen am 18.11.2022)
Miller, Patrice Marie; Commons, Michael Lamport (2010): „The Benefits of Attachment Parenting for Infants and Children: A Behavioral Developmental View“. In: Behavioral Development Bulletin. 16(1). S. 1-14.(Aufgerufen am 18.11.2022)
Sears, William; Sears, Martha (2012): Das Attachment-Parenting-Buch. Babys pflegen und verstehen. Tologo-Verlag.