Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat

Schulz von Thun Kommunikationsquadrat

Friedemann Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat
Egal, ob bei der Arbeit, an der Universität oder in zwischenmenschlichen Beziehungen – dass eine gelungene Kommunikation die Grundlage für ein angenehmes Miteinander ist, ist bekannt. Warum passiert es trotz dieses Bewusstseins so häufig, dass Menschen aneinander vorbeireden oder man Aussagen in den falschen Hals bekommt? Neben Paul Watzlawick hat sich auch der Psychologe Friedemann Schulz von Thun mit dieser Frage beschäftigt. Seine Ergebnisse hat er in der Trilogie Miteinander reden zusammengefasst. Zu seinen bekanntesten Konzepten gehört das Kommunikationsquadrat, auch Vier-Ohren-Modell genannt, um das es im vorliegenden Artikel gehen soll.

Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat: Die vier Seiten einer Nachricht

Schulz von Thun schreibt jeder Äußerung – gleich einem Quadrat – vier unterschiedliche Seiten zu. Ob Sender*innen möchten oder nicht, enthält jede Nachricht immer vier Botschaften gleichzeitig. Als Beispiel führt er folgende Situation an: Ein Ehepaar fährt gemeinsam im Auto, als Person A auf dem Beifahrer*innensitz ausruft: „Du, die Ampel da vorn ist grün!“ (S. 25). Diese Nachricht vermittelt zunächst einmal faktische Informationen über den Zustand der Ampel – sie besitzt also eine Sachebene.
Darüber hinaus sagt die Nachricht auch etwas über die sprechende Person aus. Diesen Aspekt nennt Schulz von Thun die „Selbstoffenbarungsseite“ (S. 99). Person A auf dem Beifahrer*innensitz gibt im Beispiel preis, dass sie die deutsche Sprache beherrscht, Farben erkennen und unterscheiden kann und ein*e aufmerksame*r Begleiter*in ist. Auch, dass sie es scheinbar eilig hat, ist zu erkennen. Diese Seite des Kommunikationsquadrats schließt sowohl gewollte Selbstdarstellungen als auch ungewollte Selbstoffenbarungen mit ein.
Mit einer Nachricht legen Sprechende auch immer etwas über die Beziehung zur empfangenden Person offen. Diese Informationen werden oft nicht durch den Inhalt, sondern mehr durch Formulierungen, den Tonfall oder andere nichtsprachliche Begleitsignale vermittelt. Die „Beziehungsseite“ (S. 156) des Quadrats lässt sich in zwei weitere Unterkategorien aufteilen. So senden Sprecher*innen einerseits immer eine Botschaft darüber, wie sie ihr Gegenüber sehen. Im Fall des Ehepaars im Auto vermittelt Person A Person B das Gefühl, sie sei hilfsbedürftig. Gleichzeitig steckt in jeder Nachricht auch immer eine Aussage darüber, wie Sprechende die Beziehung zu ihrem Gegenüber definieren. Im oben genannten Fall bedeutet das: Person A schätzt die Beziehung zu Person B so ein, dass ihre Aussage angebracht ist.

Nicht zuletzt beinhalten Nachrichten auch immer eine Appellseite. Sie haben – mal bewusst, mal unbewusst – die Funktion, Empfänger*innen zu etwas zu bewegen. Das muss nicht zwingend eine Handlung sein, auch bestimmte Gefühle oder Gedanken können ausgelöst werden. Der Appellaspekt einer Nachricht kann offen kommuniziert werden, aber auch versteckt mitschwingen. Im Falle des Ehepaars könnte Person A beispielsweise an Person B appellieren, doch schneller zu fahren, um die Ampel noch in ihrer Grünphase zu erreichen.

Jede Nachricht, die wir senden, beinhaltet diese vier Seiten. Je nach Situation gewichten wir die einzelnen Aspekte jedoch unterschiedlich. Für den Verlauf eines Gesprächs spielt es darüber hinaus auch eine bedeutende Rolle, wie das Gegenüber die vier Seiten der Nachricht aufnimmt. Welche Seite dabei dominant wahrgenommen wird, ist frei wählbar und stark abhängig vom Gesprächsrahmen, der Beziehung zwischen den Gesprächspartner*innen und den eigenen persönlichen Erfahrungen und Eigenschaften.

Kommunikationsprobleme im Vier-Seiten-Modell

Viele Kommunikationsprobleme entstehen, da die Gesprächspartner*innen die vier Seiten unterschiedlich gewichten. Grund dafür kann ein einfaches Missverständnis sein; in vielen Fällen haben Hörer*innen jedoch auch ein bevorzugtes „Ohr“ (S. 44), wenn es um die Verarbeitung von Nachrichten geht. Das kann je nach präferierter Seite zu unterschiedlichen Problemen führen. Während sehr pragmatische Menschen dazu tendieren, ausschließlich die Sachseite einer Nachricht zu registrieren und zwischenmenschliche Botschaften auszublenden, verbinden Personen mit sensiblem „Beziehungs-Ohr“ (S. 44) jede Nachricht mit sich selbst. Ist jemand wütend, empfinden sie dies als Angriff, wird gelacht, fühlen sie sich ausgelacht. Ein großes „Selbstoffenbarungs-Ohr“ (S. 44) kann hingegen in vielen Fällen positiv sein, hilft es doch, Verhaltensweisen anderer nicht immer persönlich zu nehmen. Auf Dauer wird hier jedoch eine Begegnung auf Augenhöhe sowie die Entwicklung guter Beziehungen nahezu unmöglich. Nicht zuletzt gibt es auch Menschen mit besonders empfindlichem „Appell-Ohr“ (S. 44). Hier droht die Gefahr einer automatisierten Reaktion auf empfangene Nachrichten. Als Beispiel sei hier das automatische Lachen nach einem Witz anzuführen, bei dem es keine Rolle spielt, wie man den Witz selbst überhaupt bewertet. Auf der anderen Seite kann das dauerhafte Unterstellen eines Appels zum Vorwurf der Funktionalisierung führen. Weinen kann dann kein simpler Ausdruck der eigenen Trauer mehr sein, sondern wird beispielsweise als ein „Auf-die-Tränendrüse-Drücken“ (S. 44) interpretiert.

Um einseitige Hörgewohnheiten und daraus folgende Kommunikationsprobleme zu vermeiden, ist es wichtig, ein Bewusstsein für die eigenen vier „Ohren“ (S. 44)zu entwickeln und sich im Gespräch regelmäßig zu reflektieren. Auf Sender*innenseite kann es hilfreich sein, die als dominant intendierte Seite zu kennzeichnen.

Besonderheiten der vier Seiten des Kommunikationsquadrats

Neben Kommunikationshürden, die auf Asymmetrien zwischen Sprecher*innen und Hörer*innen basieren, existieren auch Besonderheiten und Probleme, die spezifisch für eine bestimmte der vier Seiten sind: Jede der vier Seiten lädt zu bestimmten Verhaltensweisen ein und weist bestimmte Vor- sowie Nachteile auf. Diese Besonderheiten beeinflussen, wie Menschen sich im Gespräch verhalten. Sie sollen im Folgenden in gekürzter Form erläutert werden.

Imponieren und Tiefstapeln: Besonderheiten der Selbstoffenbarungsseite

Selbstoffenbarungen sind oft mit Scham und Angst verbunden. Aus Angst, negativ bewertet zu werden, versuchen Menschen in vielen Fällen, die Selbstoffenbarungsseite ihrer Nachricht positiv zu verfälschen. Mittel zum Zweck sind hier beispielsweise eine gehobene Sprache sowie scheinbar beiläufige Sachbeiträge, die die sprechende Person in einem guten Licht dastehen lassen. Auf der anderen Seite gibt es auch die Möglichkeit, die selbstoffenbarende Seite der Nachricht schlicht und einfach zu verbergen. Das kann durch Schweigen, eingeschränkte Mimik sowie durch unpersönliche Sprache bewerkstelligt werden. Gegenteilig zum Imponieren kann die Selbstoffenbarungsseite auch bewusst dafür genutzt werden, sich selbst kleinzureden. Ziel kann hier sein, aufbauende Komplimente oder Hilfestellungen zu erzwingen.

Der Missbrauch der Selbstoffenbarungsseite kann das Wesen einer Unterhaltung grundlegend verändern. Sind beide oder auch nur eine Seite ständig um eine optimale Selbstdarstellung bemüht, wird die Übermittlung von Sachverhalten nahezu unmöglich. Auch kann die Anspannung des ständigen „Auf-der-Hut-Seins“ zu gesundheitlichen Schäden führen. Das Gefühl der Solidarität, das entsteht, wenn man sich gegenseitig seine Schwächen offenbart, kann jedoch auch ein wichtiger Grundstein zwischenmenschlicher Beziehungen sowie bei der Selbstakzeptanz hilfreich sein. Hier zeigt sich folglich, dass die Besonderheiten der Selbstoffenbarungsebene weder rein positiv noch rein negativ sind: Sie ermöglichen sowohl destruktives wie produktives Kommunikationsverhalten.

Die Besonderheiten der Selbstoffenbarungsseite im Überblick:

  • Einladung zur Selbstdarstellung
  • Einladung zur Verhaltensmanipulation
  • Beides kann die Kommunikation auf anderen Ebenen erschweren.

Unsachlichkeit und Verständnisprobleme: Besonderheiten der Sachseite

Das grundlegende Problem der Sachebene ist, dass sie nur selten in reiner Form stattfinden kann. Meist begleiten Botschaften auf der Beziehungsseite den Sachaspekt, was einen rein informativen Austausch erschwert. So gehen als sachlich intendierte Diskussionen oft mit einer Herabsetzung des Gegenübers einher.

Ein weiteres Problem, das spezifisch die Sachebene betrifft, ist mangelnde Verständlichkeit. Sachinhalte werden in vielen Fällen besonders kompliziert dargestellt, wobei nicht immer ganz ersichtlich ist, ob dies an der Komplexität des Themas selbst, der kommunikative Unfähigkeit der vermittelnden Person oder deren Hang zur Selbstdarstellung liegt. Um das Risiko von Verständnisproblemen auf der Sachseite zu reduzieren und das Gespräch inklusiver zu gestalten, kann es helfen, sich an diesen vier Merkmalen zu orientieren: Einfachheit, Gliederung, Prägnanz und Stimulanz.

Die Besonderheiten der Sachebene im Überblick:

  • Die Sachebene ist besonders stark durch die drei anderen Seiten beeinflusst.
  • Die Sachebene kann zur Übermittlung versteckter Beziehungsbotschaften verwendet werden.
  • Sachliche Inhalte können teilweise als Beziehungsbotschaften verstanden werden, auch wenn sie nicht als solche intendiert waren.
  • Sachinhalte werden meist sehr komplex ausgedrückt, was die gegenseitige Verständlichkeit erschweren kann.

Offene und verdeckte Aufforderung: Besonderheiten der Appellseite

Auch beim Senden und Hören von Appell-Botschaften haben wir oft mit Problemen zu kämpfen. So passiert es nicht selten, dass selbst ausdrückliche Appelle vom Gegenüber nicht angenommen werden – ganz egal, wie sinnvoll und gut gemeint sie sind.

Für dieses Phänomen gibt es verschiedene Gründe, von denen im Folgenden einige erläutert werden sollen. So ist die Umsetzung vieler Appelle realistisch gesehen unmöglich. Das gilt beispielsweise, wenn es um die Veränderungen von Stimmungen oder Gefühlen geht („Freu dich doch mal!“). Auch Appelle, die das freiwillige, spontane Verhalten eines Menschen beeinflussen sollen („Umarm mich doch mal von dir aus!“) oder sich an die eigene Person richten, können häufig nicht problemlos ausgeführt werden. Schwingt im Appell eine umstrittene Beziehungsdefinition mit, führt dieser hingegen oft zu aktiver Ablehnung („Nimm einen Regenschirm mit!“).

Dazu kommt, dass nicht alle Botschaften auf der Appellseite für Hörer*innen dekodierbar sind, diese aber trotzdem beeinflussen. Diese sogenannten „verdeckten Appelle“ (S. 221) können als Manipulationstechnik gelesen werden. Hierzu gehört beispielsweise das Weinen im Streit, das den Zorn des Gegenübers automatisch mindert. Aber auch Tiefstapeln, um Hilfe zu erlangen oder die Selbstdarstellung als besonders empfindlich, um harte Kritik zu vermeiden, können als verdeckte Appelle gelesen werden. Weil sie das Gegenüber emotional stimmen, sind sie oft besonders erfolgreich. Darüber hinaus entziehen sich Sender*innen durch die Vermeidung direkter Äußerungen jeglicher Verantwortung.

Die Besonderheiten der Appellebene im Überblick:

  • Auch unumsetzbare Appelle können hier angebracht werden.
  • Appelle enthalten häufig auch Beziehungsbotschaften.
  • Appelle können versteckt übermittelt werden und so das Verhalten des Gegenübers beeinflussen.

Respekt, Übergriffigkeit und langfristige Persönlichkeitsprägung: Besonderheiten der Beziehungsseite

Die Beziehungsseite einer Nachricht enthält wohl am meisten Potenzial für Konflikte, da die Beteiligten hier persönlich betroffen sind. Einerseits spielt hier die emotionale Wirkung im Augenblick eine Rolle. Hier stellen sich folgende Fragen: Fühlt das Gegenüber sich wertgeschätzt oder empfindet es das Gesagte als herabsetzend oder sogar bevormundend? Sind beide Gesprächsparteien mit der vorgeschlagenen Beziehungsdefinition zufrieden oder wird der Umgang als grenzüberschreitend oder zu distanziert eingeschätzt?  (vgl. gewaltfreie Kommunikation) Über diese kurzfristige Wirkung hinaus können empfangene Beziehungsbotschaften auch langfristig zum eigenen Selbstbild beitragen, weshalb ihnen eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei kommen nicht nur individuelle Personen als Sender*innen in Frage, sondern auch die Gesellschaft als ganze sowie einzelne Institutionen. Das Gefährliche hierbei: Du-Botschaften beeinflussen die individuelle Wirklichkeit. Empfängt ein Mensch über einen längeren Zeitraum hinweg negative Du-Botschaften, verschlechtert sich nicht nur sein Selbstbild, er wird sein Verhalten auch diesem fremdkonstruierten Bild anpassen. Dieser Mechanismus sorgt nicht nur für negative Persönlichkeitsentwicklungen, sondern kann – laut Schulz von Thun – im Extremfall auch zu Delinquenz führen.

Die Besonderheiten der Beziehungsseite im Überblick:

  • enormes Konfliktpotential
  • starke emotionale Beeinflussungsmöglichkeiten

Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat: Kritik und Ausblick

Friedemann Schulz von Thuns Kommunikationsquadrat schafft es mehr noch als andere Theoretiker*innen zu seiner Zeit die Komplexität der menschlichen Kommunikation abzubilden. Sein Modell bietet dabei vor allem eine Grundlage für die Erklärung zahlreicher alltäglicher Kommunikationsschwierigkeiten und deren Bewältigung. Heute scheint das Konzept jedoch oft zu einfach gehalten. So konzentriert sich Schulz von Thun ausschließlich auf Gespräche, die von Angesicht zu Angesicht stattfinden – digitale und schriftliche Kommunikation bleibt außen vor. Auch Missverständnisse durch Doppeldeutigkeit, Lügen, Ironie und Sarkasmus finden keine Erwähnung. Nicht zuletzt ist die Zusammenarbeit zwischen Sprecher*innen und Hörer*innen, die für eine gelungene Kommunikation unabdingbar ist, im Kommunikationsquadrat bzw. 4-Ohren-Modell sowie der dazugehörigen Abbildung nicht erkennbar. Hinzu kommt, dass die vier Seiten keineswegs so scharf getrennt werden können, wie Schulz von Thun suggeriert. Die Darstellung der Besonderheiten der vier Seiten zeigt das eindrücklich: Nicht selten bestehen sie in Überlappungen mit einer anderen Seite.
Insgesamt zeigt sich damit, dass Schulz von Thuns Konzept zwar eine fruchtbare Grundlage für die Erkennung und Diagnose von Verständnisproblemen bildet, eine Erweiterung des Modells sich aber vor dem Hintergrund moderner Forschung sowie gesellschaftlicher Entwicklung durchaus als sinnvoll erwiese.

Alle Zitate aus:
Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen – Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg 2005.