Was Lernen ist und wie es funktioniert, ist Gegenstand der Lerntheorie, die sowohl in der Psychologie als auch in der Pädagogik verankert ist. Eine elaborierte Theorie des Lernens wurde dabei erstmals mit dem Behaviorismus vorgelegt, der später vom Kognitivismus als vorherrschende Theorierichtung abgelöst wurde. Erst dem Konstruktivismus kommt jedoch das Verdienst zu, gänzlich mit mechanistischen Vorstellungen des Lernens gebrochen und stattdessen eine auf das Individuum fokussierte Theorie etabliert zu haben. Doch was bedeutet es, Lernen im Sinne des Konstruktivismus zu verstehen, worauf gründet die Lerntheorie des Konstruktivismus und welche Konsequenzen für praktische Lehr-Lern-Prozesse bringt sie mit sich? Der vorliegende Artikel möchte sich der konstruktivistischen Lerntheorie widmen und die aufgeworfenen Fragen unter besonderer Berücksichtigung der erkenntnistheoretischen Fundierung der Theorie sowie ihrer Konsequenzen für institutionalisierte Lernprozesse beantworten.
Erkenntnistheoretische Grundlagen
Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus richtet sich gegen die weit verbreitete Annahme, es gäbe eine objektive und zugleich zugängliche Realität, die den Wertmaßstab individueller Welterlebensweisen darstelle. In den Vordergrund gerückt wird vielmehr der Umstand, dass jeder Mensch einen individuellen Blick auf die Welt wirft, Gegebenes individuell interpretiert und einordnet und damit letztlich seine eigene Welt konstruiert, die von den Welten aller anderen Menschen entscheidend abweicht. In der Konsequenz bedeutet das, dass es mehr als 7 Milliarden subjektive Welterlebensweisen gibt, die jeweils durch die Brille der eigenen Erfahrungen, des eigenen Sinnesapparats und der eigenen Denkschemata betrachtet werden und zustande kommen, nicht aber eine objektive Betrachtung von Welt, die aus einer subjektlosen Perspektive schlicht in ihrer spezifischen und universell gültigen Form gegeben wäre.
Das impliziert jedoch nicht zwingend, dass eine solche nicht existiert; es stellt zunächst einmal lediglich darauf ab, dass sie niemals zugänglich sein kann, da der Mensch als betrachtendes Subjekt seine Subjektposition und damit seine je individuellen Wahrnehmungs- und Einordnungsdispositionen auch bei größter Mühe nicht ablegen kann. Verständlich wird das auch, wird explizit auf die Rolle des Sinnesapparats verwiesen: Immanuel Kant weißt etwa explizit darauf hin, dass wir, was in unserem Sinnesapparat steckt, immer in der Welt wahrnehmen werden, ganz gleich, ob es dort tatsächlich vorhanden ist oder nicht (Kant, 2016; S. 39f.)– und genau deshalb werden wir, sind unsere Sinne doch zentral für unseren Weltzugang, niemals aufklären können, wie die Welt an sich ist.
Es ist folglich nicht sinnvoll, in Theorie und Praxis Bezug auf eine objektive Realität zu nehmen. Stattdessen ist die Subjektivität jedes Welterlebens anzuerkennen – und damit auch die starken interindividuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen. Wie wir etwas wahrnehmen, ist nämlich nicht bloß von physiologischen Gegebenheiten geprägt, die sich bereits zwischen den Menschen maßgeblich unterscheiden können, sondern auch etwa von unserer Sozialisation und unseren bisherigen Erfahrungen, die in noch stärkerem Maße interindividuell differieren.
Die jeweils erlebte Welt ist damit – das lässt sich als Kern des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus festhalten – in erheblichem Maße Produkt des jeweiligen Bewusstseins. Ein Messen der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Erlebens an einer objektiven Realität ist damit, da diese schlechterdings unzugänglich ist, unmöglich. Dass eine solche erkenntnistheoretische Position, die den meisten Menschen indes nicht nur aufgrund eigener Erfahrung plausibel erscheint, sondern auch etwa von psychologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert wird, erhebliche Konsequenzen hat, liegt nahe: Konzepte wie die Dichotomisierung von richtig und falsch etwa sind vor diesem Hintergrund schlicht unhaltbar, ebenso wie es die Annahme sicheren Wissens über die Welt an sich ist. Doch nicht nur für derartige grundlegende Fragen ist die konstruktivistische Theorie von Bedeutung. Auch im pädagogischen Kontext entfaltet sie eine enorme Wirkung: Denn was, so lässt sich fragen, bedeutet der Konstruktivismus für Institutionen, die auf die Vermittlung von Wissen setzen, oder allgemeiner: wie kann der Prozess des Lernens im Anschluss an den Konstruktivismus verstanden werden?
Die Rolle der Lernenden: Welt und Wissen als subjektive Konstruktionen
Dass im Anschluss an den Konstruktivismus eine radikale Neuausrichtung der Lerntheorie nötig ist, offenbart ein Blick auf die zuvor vertretenen Konzeptionen des Lernens. Der Behaviorismus etwa geht von Reiz-Reaktions-Schemata aus, die im Rahmen von Lernprozessen beeinflusst werden. Das jedoch setzt die absolute Gleichheit der Lernenden voraus: Sie sind blinde Maschinen, die auf Reize unter gleichen Bedingungen allesamt gleich reagieren. Das jedoch muss aus erkenntnistheoretischen Gründen zurückgewiesen werden: Es handelt sich um Individuen mit je unterschiedlichen Erfahrungen und Weltsichten, die einen ihnen präsentierten Reiz allesamt anders wahrnehmen und einordnen. Weiterhin davon auszugehen, identische Bedingungen hinsichtlich der präsentierten Reize genügten für identische Lernresultate, erscheint – ebenso wie die Aussortierung nicht wie gewünscht reagierender Individuen als gewissermaßen defekt – entsprechend naiv. Ähnliches gilt für den Kognitivismus, der zwar die individuellen Verarbeitungsprozesse einzelner Lernender anerkennt, jedoch darauf ausgerichtet ist, aus einem gleichen Input auf eine bestimmte Weise einen bestimmten Output zu generieren: Die zugrunde liegende Vorstellung, auf einen Input X hin sei eine Informationsverarbeitung Y zu leisten, die letztlich zu Output Z führe und sei das nicht der Fall, müsse an der Informationsverarbeitung gearbeitet werden, ist aus konstruktivistischer Perspektive nicht haltbar. Gibt es keine objektive Referenzskala, die außerhalb der Individuen liegt, ist die eine Informationsverarbeitung nicht besser oder schlechter als die andere.
Doch wie lässt sich die Rolle der Lernenden und der Prozess des Lernens dann verstehen? Was sind die Lernenden, wenn sie nicht mehr im Sinne von Behaviorismus oder Kognitivismus als zu normierende Input-Output-Maschinen verstanden werden?
Konsequenzen für Lehr-Lern-Prozesse
Zwischen den drei in der Lernpsychologie zentralen Theorien des Behaviorismus, des Kognitivismus und des Konstruktivismus lässt sich eine eindeutige Staffelung hinsichtlich der Aktivität der Lernenden ausmachen: Im Behaviorismus sind sie nicht mehr als Container, die korrekte Antworten produzieren müssen; im Kognitivismus werden sie als informationsverarbeitende Individuen wahrgenommen, aber nach wie vor einer starren Norm untergeordnet; erst im Konstruktivismus werden sie in ihrer Individualität akzeptiert und entsprechend zu Expert*innen ihrer eigenen Lernprozesse gemacht. Damit verändert sich auch der Begriff des Lernens zentral. Lernen ist nicht mehr zu verstehen als Prozess der Aufnahme oder Aneignung von fertigem, außerhalb der Lernenden existierendem Wissen, sondern als Prozess der Konstruktion je eigener Wissensbestände.
Lehr-Lern-Prozesse können damit nicht mehr darauf zielen, einen als allgemeingültig begriffenen Kanon an Wissen oder eine als richtig begriffene Vorgehensweise bei der Lösung konkreter Probleme zu vermitteln, was die Notwendigkeit einer Neudefinierung von Lernzielen schafft. Peter Baumgartner und Sabine Payr sprechen davon, das Lernziel konstruktivistisch orientierten Unterrichts bestehe darin, die Lernenden dazu zu befähigen, komplexe Situationen zu bewältigen (Baumgartner & Payr, 1994; S. 110/ S. 174; zit. n. Meir, o.J.; S. 16); noch stärker losgelöst von traditionellen Lernzielformulierungen ließe sich das Ziel des Unterrichts auch darin sehen, die eigene Person und die eigene Welt zu erweitern bzw. zu verändern: Lernen bedeutet im Sinne des Konstruktivismus, neues Wissen zu konstruieren und bestehendes einer Überprüfung zu unterziehen. Jean Piaget spricht diesbezüglich von Akkomodation und Assimilation als zentralen Aspekten des Lernens (Plassmann & Schmitt, o. J.): Die bestehenden Schemata (d. m. Einordnungs-, Verarbeitungs- und Denkmuster, aber auch Wissensbestände) werden in der Konfrontation mit Herausforderungen bestätigt und ihrem Anwendungsbereich erweitert (Assimilation) und/oder, da sie sich als nicht zur Lösung führend herausstellen, angepasst (Akkomodation), was transformativ auf die eigene Person und in der Folge auf die Wahrnehmung und Einordnung folgender Situationen sowie den Umgang mit ihnen wirkt.
Die Lernenden rücken damit ins Zentrum des Lernprozesses: Sie „steuern ihre Lernprozesse selbst und sind weitgehend autonom“ (Möller, 2001; S. 18.), d. h. sie sind – metaphorisch gesprochen –, diejenigen, die das Steuer in der Hand haben und die Richtung des Prozesses vorgeben. Konstruktivistisch orientierter Unterricht nimmt damit ihre Stellung in der Welt ernst und ordnet sie anders als behavioristisch oder kognitivistisch orientierter Unterricht nicht oktroyierten Konzepten unter, die – epistemisch unhaltbar – als objektiv verstanden werden.
Auswendiglernen oder das Trainieren bestimmter Lösungswege sind damit nicht Gegenstand konstruktivistisch orientierten Unterrichts. Die Unterrichtsgestaltung ist vielmehr weitgehend frei und in höchstem Maße an den jeweiligen Lernenden orientiert, was auch die Rolle der Lehrenden verändert. Sie sind nicht mehr autoritäre Schulmeister*innen und auch nicht mehr Lernanleiter*innen, sondern vielmehr Moderator*innen und Lernprozessbegleiter*innen.
Fazit: Konstruktivistische Lerntheorie als epistemisch begründete Heterogenisierung des Lernens
Abschließend lässt sich damit festhalten, dass der Konstruktivismus eine epistemisch begründete Lerntheorie vorlegt, die in der Praxis zu einer deutlichen Heterogenisierung des Lernens und der Lernformen führt. Die Lernenden rücken als Individuen mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einordnungen, mit unterschiedlichen Welten, Denkweisen und Verarbeitungsschemata in den Vordergrund und werden in dieser Hinsicht erstmals anerkannt, was die Notwendigkeit einer drastischen Revision unterrichtlichen Vorgehens begründet. Gibt es keine zugängliche objektive Realität, die als Legitimationsfaktor richtiger Wissensbestände und Lösungswege dienen kann, ist eine strikte Normierung hinsichtlich gewünschter Antworten und gewünschter Vorgehensweisen nicht mehr haltbar, was einer Individualisierung und Pluralisierung von Vorgehensweisen, Lernprozessen, Interessenlagen usw. Raum eröffnet. Der Konstruktivismus kann damit als theoretische Grundlage der Abkehr von strikter Normierung und der Hinwendung zur Anerkennung je individueller Individuen sowie einer darauf beruhenden Pädagogik und Didaktik dienen.
Literatur:
Baumgartner, Peter; Payr, Sabine (1994): Lernen mit Software. Innsbruck, Wien, München.
Kant, Immanuel (2016): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Stuttgart. [orig. 1783].
Meir, Sabine (o.J.): Didaktischer Hintergrund und Lerntheorien. Stuttgart. Online verfügbar unter: https://lehrerfortbildung-bw.de/st_digital/elearning/moodle/praxis/einfuehrung/material/2_meir_9-19.pdf [11.07.21].
Möller, Kornelia (2001): „Konstruktivistische Ansätze für das Lernen in der Grundschule?“. In: Czerwenka, Kurt; Nölle, Karin; Roßbach, Hans-Günther (Hrsg.): Forschungen zu Lehr- und Lernkonzepten für die Grundschule. Opladen.
Plassmann, Ansgar; Schmitt, Günter (o.J.): Das Entwicklungsstufenmodell nach Piaget. Essen. Online verfügbar unter: http://www.lern-psychologie.de/kognitiv/piaget.htm [11.07.21].