Geteilte Intentionalität meint die Fähigkeit und die Motivation, sich mit anderen in kooperativen Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen und Absichten zu engagieren. Der Begriff impliziert zudem, dass die psychologischen Prozesse der Beteiligten gemeinsam auf etwas gerichtet sind und innerhalb eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmens stattfinden. Der Begriff der geteilten Intentionalität (auch: kollektive Intentionalität) geht auf den Anthropologen Michael Tomasello und seine Kolleg*innen vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zurück. Die Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass die geteilte Intentionalität und die sie unterstützende kognitive Infrastruktur die entscheidenden Merkmale sein könnten, die die Sprachentwicklung ermöglichten und den Menschen in seiner Evolution voranbrachten. Tomasello entwickelte seine Theorien vor allem anhand vergleichender Studien mit Kleinkindern und Menschenaffen.
Von Kindern und Schimpansen
Im Alter von vierzehn Monaten sind Kinder in der Lage, eine Objektwahlaufgabe erfolgreich zu bestehen. Im Rahme einer der Studien Tomasellos wurden Kleinkindern zwei umgedrehte Eimer präsentiert, von denen einer ein Spielzeug enthielt. Ein*e Versuchsleiter*in zeigte auf den Eimer, in dem das Spielzeug versteckt war. Daraufhin wendete sich das Kind diesem Eimer zu und holte das Spielzeug heraus. Die Aufgabe erscheint einfach. Doch andere Primaten scheitern an ihr. Der Versuch wurde im gleichen Aufbau mit Schimpansen durchgeführt. Doch im Gegensatz zu Kindern sehen Schimpansen die Zeigegeste nicht als ein relevantes kooperatives Signal innerhalb eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmens. Sie verstehen nicht, dass das Zeigen entscheidend für die Suche als gemeinsame Aktivität sein soll. Der Eimer mit dem Objekt der Begierde bleibt unberührt.
Die geteilte Intentionalität erfordert Fähigkeiten, die bei Menschen schon in einem überraschend jungen Alter vorhanden sind. Diese Motivationen und Fähigkeiten tauchen in der menschlichen Ontogenese erstmals im Alter von etwa zwölf Monaten auf. In diesem Alter beginnen Kleinkinder, sich mit anderen Personen an verschiedenen Arten von kollaborativen und gemeinsamen Aufmerksamkeitsaktivitäten zu beteiligen. Die Teilnahme an solchen Aktivitäten führt dazu, dass Menschen während ihrer individuellen Entwicklung perspektivische und dialogische kognitive Repräsentationen zu konstruieren beginnen.
Obwohl Kinder erst im Alter von etwa 24 Monaten eine Vorstellung davon entwickeln, was andere sehen und was sie nicht sehen können, zeigen sich andere soziale kognitive Fähigkeiten damit schon viel früher. Interessanterweise scheinen Schimpansen nur in Konkurrenzsituationen zu wissen, was ein anderer sieht. Man spricht hier auch von individueller Intentionalität. In einem weiteren Versuch Tomasellos gab es zwei Belohnungen für zwei Schimpansen. Eine davon in Sichtweite des dominanten Tieres. In dieser Situation nimmt der subdominante Schimpanse die Belohnung, die aus der Perspektive des dominanten Tiers nicht zu sehen ist.
Auch ein weiteres Experiment erwies sich als aufschlussreich. Ein*e Versuchsleiter*in zeigt hier nicht kooperativ auf den Eimer mit der Belohnung, sondern macht eine verbietende Geste, indem er*sie den Arm mit ausgestreckter Handfläche in Richtung des richtigen Behälters hält, mit Nachdruck etwas wie „Nimm nicht diesen“ sagt und anschließend den Raum verlässt. Auch in diesem Wettbewerbskontext können Schimpansen erfolgreich darauf schließen, wo die versteckte Belohnung ist. Interessant ist auch, dass Kleinkinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren das versteckte Spielzeug bei einem Verbot nicht holen. Daraus lässt sich ableiten, dass sie eine bessere kognitive Kontrolle haben als jüngere Kinder und als Schimpansen und dass sie sich der sozialen und kommunikativen Konventionen einer Verbotshandlung bewusst sind.
Gemeinsame Erfahrungen verstehen
Darüber hinaus sind schon sehr junge Kinder in der Lage, gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse als solche zu begreifen. In dem Alter, in dem Kinder in der Lage sind, eine einfache informative Objektauswahl zu treffen, können sie aufgrund gemeinsamer Erfahrungen auch erkennen, wer mit einem Objekt vertraut ist und wer nicht. In einem Experiment mit drei Spielzeugen und zwei Versuchspersonen spielten die erste Versuchsperson und das Kleinkind gemeinsam mit zwei von den Spielzeugen, dann verließ die erste Versuchsperson den Raum. Danach spielten die zweite Versuchsperson und das Kind mit allen drei Spielzeugen, aber mit zweien davon ganz normal und mit einem dritten deutlich spannender. Als die erste Versuchsperson dann wieder hereinkam und mehrdeutig nach einem Spielzeug fragte, gaben die Kinder ihr zuverlässig dasjenige Spielzeug, mit dem sie mit der anderen Versuchsperson eine spannende gemeinsame Erfahrung gemacht hatten. Versuche unter Kontrollbedingungen zeigten deutlich, dass die Kinder wussten, welches der Objekte gemeinschaftlich in der unmittelbaren Vergangenheit auf eine besondere Weise erlebt wurde.
Ein linguistisches Experiment, bei dem eine Mutter mit ihrem Kind mit drei Spielzeugen spielte, dann den Raum verließ und das Kind anschließend mit einem*r Versuchsleiter*in mit einem vierten neuen Spielzeug spielte, führte zu ähnlichen Ergebnissen. Kam die Mutter zurück in den Raum, betrachtete die vier Spielzeuge und rief überrascht den Begriff für das vierte Spielzeug, erkannte das Kind diesen Begriff erfolgreich als Bezeichnung für das vierte, neue Objekt. Sie konnten damit die Erfahrung, die sie mit dem*r Versuchsleiter*in gemacht hatten, erfolgreich mit der Überraschung der Mutter in Verbindung bringen; sie verstanden, dass das vierte Objekt, das ihnen selbst durch die Erfahrung mit dem*r Versuchsleiter*in bekannt war, für die Mutter neu sein musste und daher die Quelle der Überraschung darstellte.
Gemeinsame Verpflichtungen verstehen
Tomasello stellte fest, dass Menschenkinder im Allgemeinen viel mehr an Kooperation, Teilen und Engagement für ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Erfahrungsperspektive interessiert zu sein scheinen als andere Primaten. In bestimmten Kontexten zeigen Schimpansen eine gemeinsame, kooperative, koordinierte Jagd auf kleine Affen. Und von Menschen aufgezogene, enkulturierte Schimpansen lösen erfolgreich kooperative Problemlösungsaufgaben, bei denen Nahrung nur zusammen mit einem nicht konkurrierenden, vertrauten Menschen geholt werden kann, sowohl wenn dies parallele als auch wenn dies ergänzende Rollen erforderte. Wenn es jedoch um soziale Spiele geht, zeigen die Schimpansen kein Interesse an einer Interaktion und spielen lediglich mit einzelnen Teilen eines Spielaufbaus für sich selbst. 18 bis 24 Monate alte Menschenkinder hingegen nehmen sowohl an den kooperativen Problemlösungsaufgaben als auch an den sozialen Spielen teil.
Im Unterschied zu den Schimpansen versuchen Kinder außerdem aktiv, den Erwachsenen wieder einzubinden, wenn dieser seinen Teil der kooperativen Aktivität sowohl im Problemlösungs- als auch im sozialen Kontext aufgab. Die Kinder zeigen also explizit die Fähigkeit zur geteilten Intentionalität, indem sie sich gemeinsam für ein gemeinschaftliches Ziel mit gemeinsamen Absichten einsetzen. Diese Fähigkeiten lassen sich auch in den sich manifestierenden Konversations- und Sprachfähigkeiten von Kindern zu dieser Zeit erkennen.
Das gezeigte Verhalten der Menschenkinder deutet darauf hin, dass diese begonnene kooperative Aktivitäten gewissermaßen als verpflichtend ansehen: Entzieht die erwachsene Person sich, wird sie von den Kindern sofort wieder einzubinden versucht, da sie erwarten, dass sie ihre Rolle in der Kooperation erfüllt. Sie haben also verstanden, dass ein gemeinsames Ziel verfolgt wird, das im Versuchsaufbau nur gemeinsam erreicht werden kann, haben dieses Ziel verfolgt und von ihren Spielpartner*innen die nötige Kooperation erwartet.
Zeigen und Verweisen als Grundzüge der geteilten Intentionalität
Die Grundzüge der geteilten Intentionalität sind darüber hinaus bereits in der kommunikativen Fähigkeit des informativen Zeigens zum Zwecke der Aufmerksamkeitsteilung und des Informationsaustauschs vorhanden, die Kleinkinder um ihren ersten Geburtstag herum erwerben. Diese Verhaltensweisen beinhalten sogar Verweise auf abwesende Objekte oder Ereignisse wie etwas, das draußen vor sich geht, in der Vergangenheit passiert ist oder in der Zukunft wieder passieren wird: der Verweis auf einen Teller, der leer ist und gefüllt werden sollte, oder das Deuten auf etwas, das versteckt und im Moment nicht sichtbar ist.
Schimpansen hingegen zeigen in natürlichen Kontexten so gut wie nie auf etwas. Und Schimpansen in Gefangenschaft tun dies nur, wenn sie um etwas bitten und den Menschen als „Werkzeug“ benutzen, um zu bekommen, nach was ihnen verlangt. Ein ähnliches Verhalten wurde in freier Wildbahn beobachtet: Bei der Fellpflege zeigen Schimpansen manchmal auf eine bestimmte Stelle ihres Körpers, an der sie gekratzt werden möchten. Diese „gezielten Kratzer“ sind jedoch ebenfalls zwingender Natur und nicht deklarativ. Hierin zeigt sich erneut die rein individuelle Intentionalität der Schimpansen.
Geteilte Intentionalität als Voraussetzung für Sprache und Fortschritt?
Im Gegensatz dazu zeigen 12- bis 18-monatige Kinder sich auch kooperativ, um anderen mitzuteilen, wo sich ein Objekt befindet, das diese suchen. Generell haben Menschen im Kleinkind- und Kindesalter eine natürliche Tendenz, bei einer Vielzahl von Aufgaben äußerst kooperativ zu sein und anderen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Dies ist auch der Fall, wenn der andere ein völlig Fremder und kein Nutzen für das Kind zu erwarten ist. Primaten zeigen zwar einige Fähigkeiten und Motivationen in dieselbe Richtung, doch längst nicht so ausgeprägt. Dies deutet darauf hin, dass unsere gemeinsamen Vorfahren schon eine Tendenz zur Kooperation und zum Helfen besaßen. Der Mensch hat schließlich jedoch seinen eigenen, vielleicht einzigartigen, Weg eingeschlagen.
Darüber hinaus kann auf dieser Grundlage angenommen werden, dass die Evolution des Menschen und Fortschritte in Technologie oder Kultur auf die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und die Motivation, zu teilen und mitzuteilen, zurückzuführen sind und nicht auf den sozialen Wettbewerb und Manipulation, wie es nach der Machiavellischen Intelligenz-Hypothese angenommen wird. Tomasello geht davon aus, dass geteilte Intentionalität die Grundlage sprachlicher Kooperation ist (im Unterschied zu Chomsky, der hierfür die menschliche Fähigkeit zum Begreifen von Rekursivität verantwortlich macht). Für Tomasello beruhen Sprache und Gestik des Menschen auf einer identischen „psychologischen Infrastruktur geteilter Intentionalität“.
In dieser liegt auch die Grundvoraussetzung für den kindlichen Spracherwerb begründet. In den vor 400.000 Jahren lebenden Wildbeutergesellschaften zeigten sich nach Tomasello für den Menschen die Vorteile einer koordinierten Kooperation aufgrund gegenseitiger Abhängigkeiten. Schließlich begann der Mensch in diesem Zusammenhang nicht nur zu erkennen, was der andere sieht und weiß, sondern auch sich selbst aus der Sicht des anderen zu beobachten und zu reflektieren, ob er von anderen verstanden wird. Hier sollen die Vorläufer moralischer Normen liegen. In immer größer und komplexer werdenden Gesellschaften genügte es schließlich nicht mehr, sich über direkte Zeichen zu verständigen. Die Bedeutung von Zeichen wurde durch Konventionen festgelegt, gemeinsame Normen entwickelten sich und man begann, Wissen weiterzugeben.
Tomasellos Theorien sind nicht frei von voraussetzungsreichen Vorannahmen. Doch sie erklären Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen animalischem und menschlichem Geist und wirken so in sich stimmig.
Literatur:
Moll, Henrike; Tomasello, Michael (2010): „The Gap is Social: Human Shared Intentionality and Culture“. In: Kappeler, Peter; Silk, Joan (Hrsg.): Mind the Gap. Tracing the Origins of Human Universals. Berlin/Heidelberg. S. 331-349. Online verfügbar unter: https://www.eva.mpg.de/documents/Springer/Tomasello_Gap_Mind-the-Gap_2010_1552826.pdf [14.10.21]
Hoffmann, Ludger (2019): „Michael Tomasello“. In: Ders. (Hrsg.): Reader Sprachwissenschaft. Online verfügbar unter: http://home.edo.tu-dortmund.de/~hoffmann/Reader/Tomasello.html [14.10.21].
Rakoczy, Hannes; Tomasello, Michael (2008): „Kollektive Intentionalität und kulturelle Entwicklung“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 56. 3. https://doi.org/10.1524/dzph.2008.56.3.401