Intelligenz und Hochbegabung: Übersicht und Probleme

Intelligenz und Hochbegabung

„Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.“ So lapidar formulierte der US-amerikanische Psychologe Edward Boring 1923 seine Definition von Intelligenz. Tatsächlich ist die Frage, was genau Intelligenz ist, nicht so leicht zu beantworten. Vereinfachend wird der Begriff meist allgemein auf unsere mentalen Fähigkeiten bezogen. Doch eine eindeutige und klar umrissene Definition gibt es nicht. Ähnlich ist es um den Begriff der Begabung bestellt, der meist synonym zum Intelligenzbegriff verwendet wird – jedoch nicht immer. So wird im Hinblick auf Begabung häufig zwischen intellektueller und nicht-intellektueller Begabung unterschieden. Zudem werden in diesem Zusammenhang konvergentes und divergentes Denken einander gegenübergestellt. Darüber hinaus kann Begabung in Zusammenhang mit dem – ebenfalls unscharfen – Leistungsbegriff gebracht werden. All das lässt erahnen, dass damit auch das Konzept der Hochbegabung nicht unproblematisch und unumstritten ist.

Zum Intelligenzbegriff

Der Psychologe Hubert Rohracher definiert Intelligenz als „Leistungsgrad der psychischen Funktion bei ihrem Zusammenwirken in der Bewältigung neuer Situationen“ (Rohracher, 1965, S. 325). Auch die Fähigkeit, „zweckvoll zu handeln und sich mit seiner Umwelt effektiv auseinanderzusetzen“, (Wechsler, 1958, S. 7) wird als Intelligenz bezeichnet. Andere sehen in Intelligenz die Fähigkeit, Ordnung bzw. Regelhaftigkeit zu erkennen und Probleme lösen zu können. Wieder andere Wissenschaftler*innen bringen Intelligenz mit Lernfähigkeit in Zusammenhang. Ein überwiegender Teil der Definitionsversuche beinhaltet dabei als kleinsten gemeinsamen Nenner Strategien der Problemlösung und Anpassung. Als wichtige Facetten der Intelligenz werden von Forscher*innen ferner vor allem folgende Bereiche betrachtet:

  • abstraktes und logisches Denken
  • Problemlösefähigkeit
  • Fähigkeit zur Wissensaneignung
  • Gedächtnis
  • Anpassung an die Umwelt
  • mentale Geschwindigkeit
  • sprachliche Kompetenz
  • mathematische Kompetenz

Intelligenztheorien

Verschiedene Forscher*innen haben zudem eine Vielzahl von Intelligenztheorien auf den Weg gebracht. An dieser Stelle seien nur einige prominente Theorien näher benannt, um einen noch differenzierteren Blick auf das Intelligenzproblem zu ermöglichen.

Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz

Der britische Psychologe Charles Spearman (1863-1945) beschrieb ein Konzept, das er als allgemeine Intelligenz oder den g-Faktor bezeichnete. Er setzte eine als Faktorenanalyse bekannte Technik zur Untersuchung verschiedener geistiger Eignungstests ein und kam zu dem Schluss, dass die Ergebnisse dieser Tests bemerkenswert ähnlich waren. Personen, die in einem bestimmten dieser kognitiven Leistungstests gut abschnitten, schnitten auch in anderen Tests gut ab, während diejenigen, die in einem Test schlecht abschnitten, auch in anderen Tests schlechte Ergebnisse erzielten. Für Spearman ergab sich daraus der Schluss, dass Intelligenz eine allgemeine kognitive Fähigkeit ist und als solche gemessen und numerisch ausgedrückt werden kann.

Primäre mentale Fähigkeiten

Der Psychologe Louis L. Thurstone (1887-1955) sah Intelligenz nicht als eine einzelne, allgemeine Fähigkeit. Seine Theorie konzentriert sich auf sieben unterschiedliche geistige Fähigkeiten: assoziatives Gedächtnis, numerische Fähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, logisches Denken, Räumliches Vorstellungsvermögen, verbales Verständnis und Redegewandtheit. Das Zusammenspiel dieser primären mentalen Fähigkeiten macht ihm zufolge Intelligenz aus.

Theorie der multiplen Intelligenzen

Eine der neueren Intelligenztheorien ist die Theorie der multiplen Intelligenzen nach Howard Gardner. Gardners Auffassung nach bildet die Vorstellung von einer Intelligenz wie sie in einem herkömmlichen IQ-Test gemessen wird, die Fähigkeiten eines Menschen nicht genau genug ab. Seine Theorie beinhaltet acht unterschiedliche Intelligenzen. Diese multiplen Intelligenzen beschreiben Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in verschiedenen sozialen Umfeldern unterschiedlich stark geschätzt werden. So gibt es nach Gardner auch eine musikalische und eine interpersonelle Intelligenz.

Triarchische Intelligenztheorie

Der Psychologe Robert Sternberg stimmte zwar mit Gardner darin überein, dass Intelligenz etwas deutlich Umfassenderes als eine einzelne allgemeine Fähigkeit ist, doch schlug er vor, einige von Gardners Intelligenztypen besser als individuelle Talente zu betrachten. Seine Theorie geht davon aus, dass sich Intelligenz vor allem in einem erfolgreichen Leben – wobei dieser Begriff wiederum auf die jeweils zeit- und kulturspezifischen Konventionen verweist – zeigt und dass es mit analytischen, praktischen und erfahrungsbezogenen Fähigkeiten drei Bereiche der Intelligenz zu unterscheiden gilt.

Fluide und kristalline Intelligenz

Das Konzept der fluiden und kristallinen Intelligenz geht auf Raymond Cattell (1905-1998) zurück. Er entwickelte diese Theorie zusammen mit seinem Schüler John Horn. Die Cattell-Horn-Theorie der Intelligenz geht davon aus, dass Intelligenz aus verschiedenen Fähigkeiten besteht, die interagieren und zusammenarbeiten, um eine individuelle Gesamtintelligenz zu erzeugen. Dabei besteht die fluide Intelligenz aus genetisch bedingten grundlegenden Fähigkeiten. Die kristalline Intelligenz besteht aus kulturbedingtem Wissen und aus Lernerfahrungen.

Zum Konzept der Hochbegabung

Hochbegabung wird in der Regel unter Zuhilfenahme faktorieller Intelligenztheorien wie derjenigen Spearmans diagnostiziert, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass nur solche Theorien Intelligenz als messbar postulieren. Allein die Tatsache, dass es bisher keinen universal gültigen, detailliert beschriebenen Intelligenzbegriff gibt, verweist dabei auf einen zentralen Schwachpunkt im Konzept der Hochbegabung. Zudem ist es bisher nicht gelungen, qualitative Unterschiede zwischen hochbegabten Menschen und durchschnittlich begabten Menschen auszumachen: Bisher konnte nicht festgestellt werden, dass Hochbegabte prinzipiell anders denken oder über andere Denkstrukturen und -muster verfügen.
Zudem können Begabung und Hochbegabung unter unterschiedlichen Aspekten betrachtet werden. So kann Hochbegabung gesehen werden als

  • angeborenes Persönlichkeitsmerkmal
  • feste Leistungsvoraussetzung
  • Entwicklungsdimension, die von genetischen wie von Umwelt- und Individualfaktoren abhängt.

Aus diesen Gründen wird Hochbegabung nicht qualitativ, sondern quantitativ definiert. Man spricht hier von einer Quantität, weil eine konsensuell festgelegte Ausprägung der sogenannten Begabung, die mittels standardisierter Tests gemessen wird, als hochbegabt bezeichnet wird: Es hat sich verbreitet, eine Hochbegabung als eine sehr hohe Ausprägung der Intelligenz im Verhältnis zum Durchschnitt der Bevölkerung zu betrachten. Dabei ist von einer Hochbegabung die Rede, wenn der Bemessungswert wenigstens zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert liegt, was einem Intelligenzquotienten von > 130 entspricht. Dies ist selbstverständlich kein natürlicher Grenzwert und spielt daher vor allem eine Rolle für Vergleichsstudien und weniger in der Praxis, sprich in der Begabungsförderung. Denn von einem Menschen mit einem IQ von 128 würde man kaum andere Leistungen erwarten als von einem Menschen mit einem IQ von 130, wenn sie sich sonst in keinem weiteren relevanten Punkt unterscheiden. Hochbegabung ist damit wie die als Grundlage der Diagnose herangezogene Intelligenz ein Konstrukt und keine natürliche Tatsache.

Kann man Intelligenz und Begabung messen?

Wenn Ausgangspunkt einer Diagnostik der Hochbegabung IQ-Tests sind, der Intelligenzbegriff selbst jedoch kaum als geklärt bezeichnet werden kann, bleibt die Frage, inwieweit Intelligenz und Hochbegabung tatsächlich messbar sind. Darüber hinaus muss erwähnt werden, dass – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (s.u.) – die zur Feststellung einer Hochbegabung genutzten Tests nicht explizit für die Diagnostik der Hochbegabung entwickelt wurden. Dies kann beispielsweise zur Folge haben, dass Hochbegabte kaum Testaufgaben vorfinden, die für sie schwierig zu lösen sind. Dies ist ein Grund, aus dem übliche Intelligenztests nicht geeignet sind, in überdurchschnittlichen Bereichen eine differenzierte Einschätzung des Potenzials einer getesteten Person zu geben. Man spricht hier von einem Deckeneffekt. Auch für Menschen, die einem sogenannten heterogenen Profil entsprechen und damit in bestimmten Bereichen enorme kognitive Stärken besitzen, in anderen jedoch deutliche Schwächen zeigen, ist es kaum möglich, über herkömmliche Intelligenztests ihr Potenzial einzuschätzen. Aus diesen Gründen werden bei der Diagnostik oft zwei unterschiedliche Test für ein möglichst differenziertes Ergebnis durchgeführt.

Intelligenztests zur Einschätzung von Hochbegabung

Einer der wenigen Intelligenztests, die speziell zur Diagnostik von Hochbegabung entwickelt wurden, ist die Münchner Hochbegabungsbatterie. Sie wurde im Zusammenhang mit der Münchner Hochbegabungsstudie herausgebracht und sollte eigentlich lediglich Forschungszwecken dienen.

Ein weiterer Test, der speziell auf Hochbegabung ausgerichtet ist, ist der Berliner Intelligenz-Struktur-Test für Jugendliche. Mit diesem Test sollen vor allem unterschiedliche Dimensionen der Intelligenz in Anlehnung an aktuelle Intelligenztheorien gemessen werden. Der Test ist allerdings speziell auf die Altersgruppe der 12- bis 18-jährigen ausgelegt.

Des Weiteren gibt es adaptive Tests, die es erlauben, die einzelnen Testaufgaben während der Durchführung des Tests so zusammenzustellen, dass sich der Test dem Potenzial der Testperson anpasst. Konkret bedeutet dies, dass die Testperson weniger Aufgaben lösen muss, die sie unterfordern. Auf diese Weise soll die Motivation beim Test konstant bleiben. Und es soll eine bessere Messgenauigkeit in den oberen Messbereichen entstehen.

Gibt es weitere Merkmale der Hochbegabung?

Mit dem sogenannten Marburger Hochbegabtenprojekt (Rost-Studie) fand eine umfassende Längsschnittuntersuchung hochbegabter und hochleistender Jugendlicher statt. Im Rahmen dieser Studie konnten beispielsweise Persönlichkeitsfaktoren herausgefiltert werden, die vor allem hochbegabte Kinder und Jugendliche aufweisen. Zugleich stellte sich heraus, dass bis dato vermutete Zusammenhänge zwischen spezifischen Verhaltensweisen und Hochbegabung nicht signifikant häufig auftreten. Damit kristallisierte es sich als schlichtes Vorurteil heraus, dass bestimmte psychosoziale Probleme – etwa Hochsensibilität – in der Literatur gerne mit Hochbegabung in Zusammenhang gebracht werden.

Es zeigte sich jedoch, dass die hochbegabten Kinder eine positivere Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten hatten als durchschnittlich begabte Kinder. Darüber hinaus verfügten die Hochbegabten über ein größeres schulleistungsbezogenes Selbstvertrauen. Sie wurden als psychisch besonders stabil und selbstbewusst charakterisiert und können gut in das Schulsystem integriert werden. Andere Beobachtungen kommen jedoch zu teilweise gegensätzlichen Befunden und konstatieren etwa besondere Schwierigkeiten bei der Integration ins Schulsystem – etwa aufgrund von Unterforderung.
Des Weiteren zeigte die Studie, dass nach einem Intervall von sechs Jahren 14,6 % der Schüler*innen, die ursprünglich die Kriterien der Hochbegabung erfüllten, nicht erneut als hochbegabt eingestuft werden konnten. Diese Gruppe wurde als instabil hochbegabt klassifiziert. Dabei waren die instabil Hochbegabten bereits zum Zeitpunkt der ersten Einstufung den stabil Hochbegabten in allgemeiner Intelligenz, verballogischen Denkfähigkeiten und Analogiebildungskompetenz sowie in der Schnelligkeit der Informationsverarbeitung leicht unterlegen. Als Ursachen für die unterschiedliche Entwicklung der Kinder werden in der Studie das Interessenspektrum und der sozioökonomische Status des Elternhauses genannt.

Viele Hochbegabte erbringen auch hohe Leistungen, doch Hochbegabung ist zugleich kein Garant und keine notwendige oder hinreichende Voraussetzung für diese Leistungen. Nicht alle Hochbegabten sind Hochleistende und nicht alle Hochleistenden sind hochbegabt. Tatsächlich haben Hochleister*innen in der Schule im Durchschnitt einen IQ von 117. Und keinem herausragenden Wissenschaftler, dessen IQ gemessen wurde, konnte eine Hochbegabung nachgewiesen werden. Wie erfolgreich ein Mensch durchs Leben geht, hängt nicht an seinem IQ – zumindest ist dieser nicht allein ausschlaggebend.

Quellen:
Rohracher, Hubert: Einführung in die Psychologie (9. Aufl.). Wien: Urban &
Schwarzenberg, 1965.
Rost, Detlef H. (Hrsg.): Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Befunde aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt. 2., erweiterte Auflage. Münster: Waxmann, 2009.
Wechsler, D.: The measurement and appraisal of adult intelligence. Baltimore: Williams & Wilkins, 1958.
http://www.report-psychologie.de/fileadmin/user_upload/News/Hochbegabung_RP_07-08_2015.pdf
https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hochbegabte-kinder-die-foerderung-hat-sich-kaum-veraendert-17316574.html
https://besondersbegabte.alp.dillingen.de/images/Dokumente_red/ISBLeitfaden/Grundschule/baustein_2_110304.pdf
https://www.cicero.de/kultur/iq-tests-intelligenz-der-mythos-hochbegabung/60823