Sekundäre Traumatisierung

Sekundäre Traumatisierung

Plötzliche Naturkatastrophen, brutale Kriegs- und Gewaltverbrechen, Terroranschläge, Unfälle oder private Schicksalsschläge – schreckliche Ereignisse wie diese sind aus den täglichen Nachrichten nicht mehr wegzudenken. Im Fokus therapeutischer sowie sonstiger Hilfsangebote stehen dabei vor allem die Menschen, die primär betroffen sind. Dass solche Erlebnisse jedoch auch eine traumatisierende Wirkung auf Personen haben können, die nicht selbst dabei waren, sich aber indirekt mit der Materie auseinandersetzen, galt lange Zeit als unmöglich. Während das Forschungsfeld lange Zeit nur aus vereinzelten theoretischen Ansätzen bestand, leistet heute vor allem die Psychologin Judith Daniels einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung des Phänomens. Hierfür nutzt sie in ihren Studien primär den Begriff der sekundären Traumatisierung, den dieser Artikel der Übersichtlichkeit wegen übernehmen wird.

Definition: Was ist eine sekundäre Traumatisierung?

Unter dem Begriff der sekundären Traumatisierung versteht man Traumata, „die ohne direkte sensorische Eindrücke des Ausgangstraumas und mit zeitlicher Distanz zum Ausgangstrauma“ (Daniels, 2003) entstehen. Menschen, die aus zweiter Hand von Traumata erfahren, erleben dabei ohne direkte Konfrontation eine „Ansteckung“ (Daniels, 2008) mit posttraumatischen Symptomen. Dies geschieht meist im beruflichen Kontext. Zu jenen Gruppen, die berufsbedingt besonders gefährdet sind, zählt die Fachliteratur in erster Linie Therapeut*innen und medizinische Mitarbeiter*innen, aber auch Sozialarbeiter*innen. In Fachkreisen sind hier auch die Begriffe vicarious trauma, stellvertretendes Trauma oder indirekrektes Trauma geläufig.

Anerkennung des Phänomens

Für viele Forschende ist das Phänomen sekundäre Traumatisierung noch heute eine Art Glaubenssache. Anlass für eine solche Position ist vor allem eine Studie eines Psycholog*innen-Teams rund um Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Konstanz. Das Team kam nach der Auswertung 21 quantitativer Studien zu psychischen Konsequenzen traumatherapeutischer Arbeit zu dem Ergebnis, dass gerade einmal die Hälfte der Studien einen Zusammenhang zwischen Symptomen und Trauma-Exposition der Therapeut*innen nahelegte. Die Forschenden gehen stattdessen davon aus, dass die einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ähnelnden Symptome einiger Therapeut*innen auf eigene traumatische Erfahrungen außerhalb der traumatherapeutischen Arbeit zurückzuführen sind. Dem entgegen steht Daniels‘ explorative Interview-Studie von 2006, die zeigt, dass die Symptomatik sich zwar in großen Teilen mit der einer PTBS überschneidet – jedoch auch einzelne sehr spezifische Eigenarten aufweist, die für eine separate Charakterisierung sprechen.

Auch wehren sich viele Forschende gegen die Anerkennung des spezifischen Symptomclusters als Trauma – und berufen sich dabei darauf, dass die Ausgangsvoraussetzungen sekundärer nicht mit denen primärer Traumata identisch sind. Während primäre Traumatisierungen meist nicht voraussehbar sind, wissen Menschen, die eine Sekundärtraumatisierung erleben, meist im Voraus, dass, wann und wie sie mit dem Traumamaterial konfrontiert werden. In vielen Fällen haben sie sogar die Möglichkeit, Kontaktzeit und -art selbst frei einzuteilen. Damit ist die Konfrontation für Betroffene in der Regel kontrollierbar – das Gefühl der Hilflosigkeit bleibt entsprechend meist aus. So sind Therapeut*innen beispielsweise in der Lage, die einzelnen Sitzungen durch verschiedene Techniken zu beeinflussen oder zu steuern. Zuletzt verfügen Betroffene sekundärer Traumata meist über ein erweitertes Fachwissen, was sie von primär Traumatisierten unterscheidet. So können sie Symptome schneller zuordnen und besser auf diese reagieren. Hinsichtlich der Genese scheinen primäre und sekundäre Traumata folglich nicht unterschiedlicher sein zu können. Einige Forschende sehen in der Bezeichnung als Trauma daher eine Art Concept Creep, eine semantische Entgrenzung eines ursprünglich klar definierten Begriffs. Daniels setzt hier jedoch entgegen, dass sekundäre Traumatisierungen nicht nur in der Art, sondern auch der Intensität ihrer Symptome von primären Traumata nicht zu unterscheiden sind.

Entstehung sekundärer Traumata

Doch wie kann es sein, dass Menschen trotz Fachwissen und Vorhersehbarkeit sowie Kontrollierbarkeit des Materials Traumatisierungen erleben? Daniels kommt in ihrer neuropsychologischen Untersuchung sekundärer Traumata zu folgendem Schluss: Für die Entstehung sekundärer Traumata muss eine Person über eine hohe Empathiefähigkeit verfügen, das Traumamaterial muss dissoziativ verarbeitet werden und im Gehirn muss das sogenannte Kindling ablaufen.
Das bedeutet im Beispiel einer Therapeutin: Durch ihre empathischen Fähigkeiten erlebt sie bei der Konfrontation mit dem Traumamaterial selbst eine Angsterregung. Durch häufige Wiederholungen dieses Vorgangs – wahrscheinlich sogar mit verschiedenen Klient*innen – wird die Aktivierungsschwelle der Amygdala, die für Angstgefühle zuständig ist, immer weiter herabgesetzt. Das bedeutet, dass mit der Zeit immer schwächere Auslöser ausreichen, um starke Angstreaktionen auszulösen. Bei erneuter Konfrontation ist es dann wahrscheinlich(er), dass die Therapeutin beim Zuhören in einen Zustand der peritraumatischen Dissoziation rutscht, in dem die Selbst-Fremd-Differenzierung stark beeinträchtig ist. Das Traumamaterial wird in der Folge ohne zeitlichen oder räumlichen Kontext und mit Bezug zur eigenen Person abgespeichert.

Symptome der sekundären Traumatisierung

Daniels‘ Studie zeigt weiter auf, dass die sekundäre Traumatisierung in ihrer Symptomatik zu großen Teilen der PTBS ähnelt, was die Differenzierung der beiden Phänomene erschwert. So erleben Personen beider Kategorien das sogenannte „Hyperarousal“ (Daniels, 2008). Ein Phänomen, unter das anhaltende Angstsymptome, aber auch ein dauerhaft erhöhtes Erregungslevel fallen. So sind viele Betroffene von Schlaflosigkeit und Konzentrationsstörungen geplagt. Darüber hinaus etablieren viele Personen Vermeidungsstrategien, um Reize zu umgehen, die sie mit dem Trauma verbinden. Auch kommt es in beiden Fällen zu Interessenverlust und Entfremdungsgefühlen. Ein weiteres Symptom, das beide Krankheitsbilder vereint, sich aber in Nuancen unterscheidet, ist die Intrusion: Personen, die von sekundärer Traumatisierung betroffen sind, erleben – wie auch Menschen mit PTBS – immer wieder unkontrollierbar das spezielle Traumamaterial. Anders als letztere befinden sich sekundär Traumatisierte dabei in aller Regel selbst nicht im Bild, was die Intensität des Erlebten jedoch nicht mildert. Darüber hinaus häufen sich bei der PTBS oft Träume, die vom Traumamaterial handeln – bei der sekundären Traumatisierung kommt dies seltener vor.

Die sekundäre Traumatisierung weist darüber hinaus ähnlich Komorbiditäten wie die PTBS auf. Dazu gehören etwa eine „depressive Verarbeitung“ (Daniels 2008) sowie ein Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, der oft auch dazu dient, die Hyperarousalsymptomatik zu lindern. Zuletzt erleben viele Betroffene der sekundären Traumatisierung eine Art Entgrenzung, bei der auch das Leben außerhalb der Arbeit vom Traumamaterial eingenommen wird. Oft besuchen sie Fortbildungen oder Vorträge zu den entsprechenden Themen, suchen das Gespräch mit anderen Interessierten und beschäftigen sich mit passenden Büchern oder Filmen. Hierin lassen sich erste Hinweise einer sekundären Traumatisierung ausmachen. Nicht zuletzt leiden viele Personen an einem ausgeprägten Bedrohungsgefühl, das sich jedoch diagnostisch kaum greifen lässt. Zwar ähneln die Vorstellungen hinsichtlich ihrer Unkontrollierbarkeit und Intensität klassischen Wahngedanken oder Paranoia – der enge Realitätsbezug macht eine Verwandtschaft jedoch unwahrscheinlich. Mit dem anhaltenden Bedrohungsgefühl geht meist auch ein unverhältnismäßiges Sicherheitsverhalten einher.

Prävention: Wie kann sekundären Traumata vorgebeugt werden?

Um der Entstehung einer Sekundärtraumatisierung vorzubeugen, sollten sich Gefährdete einem regelmäßigen Screening auf Traumasymptome unterziehen. Gleichzeitig kann es helfen, Sport und Entspannungs- sowie Imaginationsübungen in den Alltag einzubauen. Um den Umgang mit dem Traumamaterial sowie dessen Verarbeitung zu erleichtern, sind Nachbesprechungen, Supervisionen und reflektierende Berichte sinnvoll. Weil Sekundärtraumata stark an einen Vorgang der Dissoziation geknüpft sind, sollten gefährdete Personen vor allem den eigenen Verarbeitungsstil regelmäßig hinterfragen. Auch hier können eine Besprechung der eigenen Reaktionen sowie Imaginationsübungen hilfreich sein. Zusätzlich kann es helfen, den Raum, in dem die Konfrontation stattfindet, nach eigenen Wünschen zu gestalten. Treten akut Symptome auf, sollte zeitnah eine Nachbesprechung der Konfrontation organisiert werden. Anhaltendes Grübeln sollte durch angenehme Tätigkeiten oder körperliche Bewegung unterbrochen werden. Beim Auftreten von Intrusionen ist es ratsam, weitere Begegnungen mit dem Traumamaterial vorerst zu vermeiden. Insgesamt zeigt sich damit, dass die Prävention weniger eine individuelle als vielmehr eine institutionelle Angelegenheit ist: Das Individuum kann zwar durchaus Vorkehrungen treffen; letztlich ist es jedoch weitgehend auf die Implementierung wirksamer Vorsorgestrukturen etwa in Form von Supervisionsgruppen und Gesprächsrunden angewiesen.

Sekundäre Traumatisierung – ein berufsspezifisches Risiko im Pflege- und Gesundheitsbereich?

Obwohl die Akzeptanz und Forschung auch in Berufsgruppen wie der Psychotherapie oder der sozialen oder medizinischen Arbeit nur schleppend vorangeht, gibt es doch andere Metiers, um die es weitaus schlechter bestellt ist. So besteht das Risiko einer sekundären Traumatisierung auch für viele Journalist*innen und Wissenschaftler*innen – was deutlich weniger bekannt ist. Geschichtswissenschaftler*innen beschäftigen sich beispielsweise jahrelang mit denselben grausamen Verbrechen, sprechen ausgiebig mit Zeug*innen, bearbeiten ungeschöntes Bild- und Tonmaterial. Trotzdem stehen Personen in diesem Berufsfeld keinerlei Support-Systeme wie Supervision oder therapeutische Hilfe zur Verfügung. Stattdessen riskieren Betroffene, wenn sie über die traumatischen Auswirkungen ihrer Recherchen sprechen, ihr berufliches Netzwerk oder – in Staaten mit rein privaten Sicherungssystemen – gar ihren Anspruch auf Krankenversicherung zu verlieren. Viele – vor allem ältere – Forschende sehen durch die Akzeptanz sekundärer Traumatisierungen im Bereich der Geschichtswissenschaften ferner die Tradition der emotionalen Unerschütterlichkeit und Neutralität gefährdet.

Fazit: Sekundäre Traumatisierung, Vorsorge und Erforschung

Es zeigt sich: Ganz unabhängig davon, ob man die sekundäre Traumatisierung nun als eigenständiges Phänomen anerkennt, muss in diesem Bereich noch viel Arbeit geleistet werden. Das betrifft zum einen Forschungslage und Transparenz, zum anderen das gesellschaftliche Tabu, das in zahlreichen Professionen noch vorherrscht. Statt psychische Auswirkungen als ein Zeichen von Schwäche und mangelnder Professionalität zu sehen, sollte man daran arbeiten, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und Hilfsprogramme barrierefrei und berufsunabhängig zugänglich zu machen.

Quellen:

Daniels, Judith (2006): Sekundäre Traumatisierung. Kritische Prüfung eines Konstruktes. Bielefeld. Online verfügbar unter: https://www.researchgate.net/profile/Judith-Daniels/publication/226752211. [01.07.22].
Daniels, Judith (2007): Eine neuropsychologische Theorie der Sekundären Traumatisierung. Online verfügbar unter: https://sekundaertraumatisierung.de/wp-content/uploads/2019/04/Daniels_2007_ZPPM_ST.pdf. [01.07.22].
Daniels, Judith (2008): Sekundäre Traumatisierung. Interviewstudie zu berufsbedingten Belastungen von Therapeuten. Bielefeld. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s00278-008-0585-y. [01.07.22].
Robins, James (2021): Can historians be traumatized by history?. Online verfügbar unter: https://newrepublic.com/article/161127/can-historians-traumatized-history. [01.07.22].
Daniels, Judith (2016): Briefingpaper. Fortbildungsinstitut für Sekundärtraumatisierung und Traumatherapie. Online verfügbar unter: https://sekundaertraumatisierung.de/wp-content/uploads/2016/10/Briefingpaper.pdf. [01.07.22].