Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und die Mechanismen der Pathologisierung

Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und Pathologisierung

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom* stellt laut ICD-10 eine besondere Form der artifiziellen Störung dar und wird gleichzeitig als Form des Missbrauchs verstanden. Doch inwiefern ist es sinnvoll, das wiederholte bewusste Erzeugen von körperlichen Symptomen am eigenen Kind und die anschließende Initiation einer medizinischen Behandlung als psychische Störung zu klassifizieren? Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zeigen sich – so die These des vorliegenden Artikels – die Probleme der Pathologisierung abweichenden Verhaltens besonders deutlich, sodass eine nähere Betrachtung dieses Syndroms besonders geeignet erscheint, allgemeine Mechanismen der Pathologisierung sowie ihre Implikationen und Folgen auszuarbeiten.

Der psychiatrische Blick. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom als psychische Störung

Vor der Ausarbeitung des Kernthemas soll hier zur besseren Abgrenzung des untersuchten Phänomens zunächst eine Beschreibung des Syndroms aus medizinisch-psychiatrischer Perspektive erfolgen. Kern der medizinisch-psychiatrischen Perspektive ist die Einordnung des fraglichen Verhaltens als psychische Störung mit Krankheitswert. In der ICD-10 ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom den artifiziellen Störungen zugeordnet, die wie folgt beschrieben werden:
„Der betroffene Patient täuscht Symptome wiederholt ohne einleuchtenden Grund vor und kann sich sogar, um Symptome oder klinische Zeichen hervorzurufen, absichtlich selbst beschädigen. Die Motivation ist unklar, vermutlich besteht das Ziel, die Krankenrolle einzunehmen. Die Störung ist oft mit deutlichen Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen kombiniert“.1
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kann dabei als Sonderform der artifiziellen Störung verstanden werden, da nicht die Patient*innen selbst, sondern ihnen anvertraute Personen, in beinahe allen Fällen ihre Kinder, die von ihnen erzeugten Symptome tragen. Das Medizinlexikon Doccheck hält diesbezüglich fest, dass die Patient*innen „sich zu 98% aus Frauen zusammen[setzen], wobei die leiblichen Mütter zu 90% die eigentlichen Täterinnen sind“2, während „der Rest […] aus Pflege- oder Stiefmüttern“3 bestehe. Darüber hinaus wird in der einschlägigen Literatur vermerkt, dass die Patient*innen häufig in medizinischen Berufen tätig sind oder über überdurchschnittliches medizinisches Wissen verfügen. Auch zum sonstigen Verhalten werden genaue Beobachtungen festgehalten. So sollen die Patient*innen etwa „überzufällig [häufig] alleinerziehend oder getrennt leben[]“4, „eine durchschnittliche Bildung“5 aufweisen, meist „distanzierte Beziehungen“6 führen, die von „Züge[n] von Misstrauen, Täuschung und Verrat“7 geprägt sind. Insgesamt sind die Patient*innen damit „nicht in der Lage[,] emotional tragfähige und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen“.8 Festgehalten wird weiterhin, dass „[d]ie heutigen Täterinnen […] zumeist selbst Opfer von Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und sozialer Deprivation“9 waren. Auszeichnen sollen sie sich darüber hinaus vor allem durch die Ambivalenz in der Beziehung zum eigenen Kind: Während sie sich in der Öffentlichkeit als „sorgsame Mutter“10 präsentierten, fügten „sie dem Kind im Privaten grausamste Verletzungen zu“.11 Auffällig ist ferner, dass viele der Patient*innen selbst Kinder von Elternteilen, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litten, sind.
Die abrisshafte Darstellung zeigt ein eindeutiges Narrativ: Gezeichnet wird das Bild eines Menschen, der seine biografisch erklärbare Beziehungsunfähigkeit durch eine künstlich erzeugte Abhängigkeit des Kindes von ihm und die dadurch entstehende enge Bindung kompensieren will. Auch Fallberichte tradieren in aller Regel ein solches Narrativ.

Der juristische Blick. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom als Verbrechen

Das gezeichnete medizinisch-psychiatrische Narrativ ist dabei jedoch keineswegs konsistent, was sich etwa darin zeigt, dass der Begriff der Patient*innen teilweise synonym mit dem der Täter*innen verwendet wird. Ebenfalls als Hinweis auf die mangelnde Konsistenz zu verstehen ist in diesem Sinne der Umstand, dass explizit von „Frauen, die am Münchhausen-by-proxy-Syndrom leiden“12 oder einer „stabile[n] Arzt-Patienten-Beziehung“13 als Grundlage der Therapie gesprochen wird, gleichzeitig jedoch etwa konstatiert wird, dass „die früheren Opfer zu den heutigen Tätern werden“14, womit das medizinische Bild der Patient*innen als Opfer ihrer biografisch erklärbaren psychischen Erkrankung umgekehrt wird zum juristischen, in welchem die Kinder, die in der medizinischen Betrachtungsweise lediglich Objekte der Auslebung der Krankheit der Patient*innen sind, die Opfer darstellen.

Die Vermengung der disparaten Narrative, die sich beispielhaft im zitierten Lexikoneintrag zeigt, ist auch in der Praxis vorzufinden – wie bei jeder anderen psychischen Störung, die mit Fremdschädigung einhergeht. In einer Reportage in der ZEIT wird etwa ein beispielhafter Prozessablauf geschildert, der gekennzeichnet ist nicht bloß durch Vernehmungen, sondern auch und vor allem durch psychiatrische Gutachten.15 Aus juristischer Perspektive ist es unzweifelhaft, dass die bewusste Schädigung einer anderen Person einen Straftatbestand darstellt; es ist jedoch erheblich, inwieweit diese Handlung frei und inwieweit sie durch eine Erkrankung determiniert ist, womit das zentrale juristische Narrativ, das die Täter*innen als Personen, die eine kodifizierte Regel verletzt haben, präsentiert, auch im genuin juristischen Diskurs seine Vormachtstellung verliert.

Hierin zeigt sich die wesenhafte Verwandtschaft und zunehmende Verschmelzung der beiden Wissensbereiche, die eindrücklich etwa Michel Foucault herausgestellt hat: „Sie [d.i. die Delinquenz] gilt es nun zu erkennen, abzuschätzen, zu messen, zu diagnostizieren, zu behandeln, wenn man Urteile fällt; sie, diese Anomalie, diese Abweichung, diese dumpfe Gefahr, diese Krankheit, diese Existenzform, muß nun in Rechnung gestellt werden, wenn man die Strafgesetze novelliert“.16 Die hier anklingenden Reformen der Strafjustiz im 18. Jahrhundert führen, das macht die Aufzählung unterschiedlicher Substantive deutlich, zu einer Vermengung und Synonymisierung medizinischen und juristischen Vokabulars: Es ist nicht mehr erheblich, ob die Abweichung Krankheit oder bloß Gefahr ist, wenn der Modus ihrer Bearbeitung ein diagnostisch-therapeutischer ist. Ein solcher wiederum, das ist bei Foucault zentral, liegt vor, sobald die Strafjustiz ihr Ziel nicht mehr in der Bestrafung von Verletzungen kodifizierter Regeln, sondern in der Normierung der Regelbrecher*innen sieht. Mit dieser Entwicklung werden die medizinische und die juristische Tradition vereinigt: „[I]n der im 18. Jahrhundert von den Reformern definierten Strafjustiz zeichneten sich zwei mögliche Linien der Objektivierung des Kriminellen ab: einmal die Serie der moralischen oder politischen ‚Monster‘, die aus dem Gesellschaftsvertrag herausgefallen waren; und dann die Dimension des Rechtssubjekts, das durch die Bestrafung wiedereingebürgert wird. Der ‚Delinquent‘ verknüpft nun gerade diese beiden Linien und stellt unter dem Schutz der Medizin, der Psychologie oder der Kriminologie ein Individuum dar, in dem der Rechtsbrecher und das Objekt einer gelehrten Technik – beinahe – eins werden“.17 Wird das Gefängnis derjenige „Ort, wo die Strafgewalt […] stillschweigend ein Feld von Gegenständlichkeit organisiert, damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann“18, erscheint es nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, nicht mehr bloß einen Regelbruch festzustellen, sondern eine eingehende medizinisch-juristische Diagnostik zu betreiben, die nicht mehr das Verbrechen, sondern die Verbrecher*innen zum Gegenstand hat.

Festhalten lässt sich damit bis hierhin, dass sowohl die medizinische als auch die juristische Bearbeitung des gezeigten abweichenden Verhaltens ausgehend von der eindeutigen Feststellung der Abweichung eine Heilung, ergo: Normierung, anstreben. Die hierfür eingesetzten Mittel differieren zwar, strukturell besteht jedoch kein nennenswerter Unterschied in den Zugriffsweisen. Insofern erscheint es folgerichtig, die Begriffe Patient*innen und Täter*innen synonym zu verwenden. Gleichwohl weist dieser Umstand zentral darauf hin, dass ein wesentlicher Teil des Charakters des Phänomens in den Hintergrund rückt: Arbeiten Medizin und Strafjustiz gemeinsam an der Heilung der Patient*innen, rückt der Tatcharakter in den Hintergrund – auch, wenn er in der formalen Terminologie, die zumindest zeitweise die Benennung der Patient*innen als Täter*innen und der Kinder als Opfer vorsieht, berücksichtigt bleibt.

Der handlungstheoretische Blick. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom als Handlung(skette)

Wird in einem juristischen Urteil beispielsweise „eine Persönlichkeitsstörung, die in Kombination mit ihrer [d.i. die Protagonistin der zitierten Reportage] Lebenssituation ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom hervorgerufen hat“19 attestiert, so wird damit zentral an einem Grundsatz juristischer wie auch ethischer Wertung gerüttelt: Die beschriebene Kausalrelation legt einen zumindest partiellen Determinismus nahe, der die Täter*innen wieder vollständig zu Patient*innen macht, da sie ihre Tat, die in ihrer kausalen Bedingtheit den Handlungscharakter verliert, nicht zu verantworten haben. Das wiederum wirft die Frage danach auf, inwieweit der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist und inwieweit diese Frage sich klären lässt.

Verwiesen ist damit auf die zentralen Gegenstände der Handlungstheorie, die sich nicht zufriedenstellend bearbeiten lassen, da sie sicheres Wissen voraussetzen, das der Mensch (und damit auch die Wissenschaften) in seinem Zurückgeworfensein auf die ihm gegebene empirisch-phänomenale Welt nicht gewinnen kann. Ein solcher epistemischer Skeptizismus legt, soll Aussagefähigkeit beibehalten und wissenschaftliches Arbeiten nicht grundsätzlich negiert werden, den Rücktritt vom nie einzulösenden Anspruch objektiver Wahrheit hin zu demjenigen, die empirisch-phänomenale Welt zu untersuchen, nahe. Das wiederum bedingt ein Sichzuwenden zu den konkreten Phänomenen in dieser empirischen Welt. In dieser wiederum – und das lässt sich auf empirischer Grundlage kaum bestreiten – wird der Mensch gemeinhin als frei erlebt. Hierfür ist es unerheblich, ob ein freier Wille tatsächlich existiert; von Bedeutung ist lediglich, ob er in der empirisch-phänomenalen Welt vorliegt, ergo: ob die Welt sich dem Menschen in einer Form präsentiert, die diesen Eindruck vermittelt.

Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Handlung als diejenige Tat, die der Mensch nicht bloß erleidet, sondern aus sich heraus bewusst vollzieht: „[H]andeln heißt die Gestalt der Welt verändern“20 – und zwar intentional. So handelt etwa der „ungeschickte Raucher, der aus Versehen ein Pulverfaß in die Luft fliegen lässt“21, nicht, da die notwendige Intentionalität der Handlung fehlt. Vorbedingung einer solchen Handlung ist nach Jean-Paul Sartre das Erkennen eines Mangels: Der Mensch muss, bevor er handelt, erkennen, dass ein bestimmter Zustand X, den er für wertvoll hält, nicht ist, woraufhin er sich entscheidet, diesen gewünschten Zustand X durch seine Handlung eintreten zu lassen. Dieser Mangel, also: der noch nicht eingetretene Zustand, wird in Sartres Terminologie als Negatität bezeichnet. Zentral ist ferner, dass „kein faktischer Zustand […] das Bewußtsein dazu bestimmen [kann], ihn als Negatität oder Mangel zu erfassen“22, was bedeutet, dass die Entscheidung, Zustand X anstelle von Zustand Y zu wollen, immer genau das ist – eine Entscheidung. Daraus wiederum lässt sich eine uneingeschränkte Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen ableiten.

Der kritische Blick. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom als Ausdruck von Pathologisierung

Bezogen auf den Fall des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms bedeutet die Klassifizierung als psychische Störung die Negation der im vorherigen Absatz getroffenen Feststellung: Durch die medizinische Behandlung und die Diffusion des medizinischen Diskurses in den Bereich der Strafjustiz wie in den der Ethik wird den Betroffenen die Verantwortung für die Tat abgesprochen. Problematisch ist das nicht nur, da der gesamte medizinisch-juristische Diskurs um Schuldunfähigkeit auf der Prämisse baut, der Mensch könne von sich selbst entfremdet, ein Bewusstsein von dem, was der Mensch ist, abgetrennt sein, sondern auch, da sich – und hier ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom zur Illustrierung besser geeignet als andere psychische Störungen – die Frage nach der Begründung einer Grenzziehung stellt. Im Folgenden soll die grundsätzlich problematische Annahme, Bewusstsein und Individuum seien differente, gewissermaßen analytisch wie praktisch trennbare Entitäten, was Grundvoraussetzung etwa der Feststellung, ein Mensch könne nicht „im Vollbesitz [s]einer geistigen Kräfte“23 oder „unfähig […], das Unrecht der Tat [d.m. die Kodifizierung als solches] einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“24 sein, ist, zugunsten der Fokussierung auf die Abgrenzungsproblematik außer Acht gelassen werden.

Diese Abgrenzungsproblematik wiederum stellt sich beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in eindrücklichster Form dar, da zur Diagnosestellung anders als bei den allermeisten anderen psychischen Störungen das Vorliegen einer Tat ausreicht. Während sich etwa die Schizophrenie durch „grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet“25 ist und sich weiterhin durch „Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome“26 auszeichnet oder die Depression Stimmung, Antrieb, Aktivität, Schlaf, Selbstbild sowie bestimmte körperliche Funktionen betrifft27, ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gegeben, wenn „physisch gesunde Personen bei einem anderen Menschen (häufig dem eigenem Kind) Krankheiten vortäuschen oder bewusst herbeiführen, um anschließend eine medizinische Behandlung zu verlangen“.28

Das wiederum wirft die Frage auf, inwiefern diese Tat immanent pathologisch ist, wohingegen andere Taten, auch solche, die keinen Verstoß gegen eine kodifizierte oder implizierte Regelordnung darstellen, nicht in dieser Form bewertet werden. Strukturell identisch mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wäre etwa ein nicht existentes Elli-Link-Syndrom**, dessen einziges Symptom darin besteht, den*die Ehepartner*in zu töten. Wieso also stellt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom der medizinischen Klassifikation zufolge eine Störung mit Krankheitswert dar, das Töten des*der Ehepartner*in (oder andere strukturell identische Phänomene) jedoch nicht? Die aufgeworfene Frage impliziert die nach den allgemeinen Zielen und Mechanismen der Pathologisierung.

Individuelle Ebene. Normierung von Individuen

Auf der individuellen Ebene ist die Kernimplikation der Pathologisierung offensichtlich: Das betreffende Individuum ist krank, defekt. Das impliziert, dass der Versuch einer Reparatur zumindest nicht aussichtslos ist – was bei einem bösen Individuum schon eher der Fall wäre, da die Abweichung hier nicht das Resultat eines dem Individuum in irgendeiner Form äußerlichen Zustands, sondern Charaktermerkmal und damit Entscheidung dieses Individuums wäre. Foucault beschreibt den Unterschied der beiden Perspektivierungen eines Phänomens in Überwachen und Strafen eindrücklich, indem er die auf der jeweiligen Perspektivierung gründenden Herrschafts- und Strafstile analysiert. Werden Übertretungen kodifizierter Regeln zuvorderst als Ausdruck der Missachtung der hinter diesen Regeln stehenden Gewalt verstanden, die Pathologisierung also zugunsten der rein vor der Schablone des Gesetzes betrachteten Handlung zurückgestellt, so folgt eine Strafe, die die „rechtlich-politische Funktion“29 hat, die „für einen Augenblick verletzte[] Souveränität“30 des Souveräns, der hinter dem Gesetz steht, wiederherzustellen – und folglich ausschließlich zu strafen, um die Macht des Souveräns und/oder seines Gesetzes zu behaupten. Diese Vorstellung der Übertretung des Gesetzes als Angriff auf den Souverän weicht mit der Zeit, so Foucaults Feststellung, anderen Strafpraktiken, die einen zuvorderst pädagogischen Charakter haben und – historisch betrachtet – über die Etablierung von „Vorstellungen und Zeichen, die diskret, aber mit zwingender Gewißheit im Geiste aller zirkulieren“31 bis hin zur Idee der Delinquent*innen, die zu nützlichen Bürger*innen umerzogen werden, verläuft. Festzustellen ist damit eine historisch sich vollziehende Verschiebung der Perspektivierung: Von den zu bestrafenden Verbrecher*innen, die Feinde des Souveräns und des Gesetzes sind, hin zu den defekten Delinquent*innen, die in einem Strafapparat, der auch und vor allem eine „Technologie der ‚Seele‘“32, die getragen wird von „Erzieher[n], Psychologen und Psychiater[n]“33, betreibt, normiert und damit zu nützlichen Gliedern der kapitalistischen Gesellschaft umgeformt werden können. Nicht nur die unaufhebbare Vermengung juristischen und medizinisch-psychiatrischen Wissens in letzterer Perspektivierung macht diesen Befund für die vorliegende Arbeit interessant, sondern auch die Tatsache, dass die identische Entwicklung im öffentlichen Diskurs über den Wahnsinn zu beobachten ist, wie Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft herausarbeitet: Die Wahnsinnigen, ergo: diejenigen die (auch) nicht kodifizierte Regeln übertreten, werden nicht mehr wie Leprakranke ausgesperrt, sondern in Abweichungsheterotopien diszipliniert, um letztlich der kapitalistischen Gesellschaft als nutzbares Material wieder zugeführt werden zu können. Die Übergänge zwischen Delinquent*innen und Wahnsinnigen sind dabei freilich fließend, da die jeweiligen Wissensbestände sich aus einem strukturell identischen Zugriffsmodus auf Abweichung ergeben.
Auf der individuellen Ebene ist die Strategie hinter der Pathologisierung damit die der Normierung. Das nach einem Regelübertritt pathologisierte Individuum wird mit der Pathologisierung zugleich als defekt und potentiell reparabel klassifiziert. Damit ist einem disziplinierenden Zugriff der Boden bereitet. Während dieser Modus der Bearbeitung der Abweichung in der Psychiatrie in seiner offensten Form zutage tritt, ist er in der Strafjustiz eine von mehreren Wirkmächten. Die enge Verbindung beider Formen der Bearbeitung von abweichendem Verhalten zeigt sich dabei in der zunehmenden Pathologisierung unterschiedlichster Regelverstöße, in der zunehmenden Konsultation medizinisch-psychiatrischer Sachverständiger in Gerichtsverfahren sowie im zunehmend therapeutisch-disziplinierenden Setting der totalen Institutionen innerhalb der Strafjustiz. Einher geht mit dieser Ausrichtung eine verstärkte Aberkennung der Autonomie und Verantwortlichkeit derjenigen Individuen, die eine Regel übertreten haben: Wer krank ist, erleidet den Regelverstoß mehr in der Form eines auferlegten Schicksals, als ihn zu begehen. Mit der juristischen steht damit auch die moralische Verantwortlichkeit in höchstem Maße infrage.

Gesellschaftliche Ebene. Grundannahmen aufrechterhalten

Neben der individuellen ist auch eine gesellschaftliche Ebene berührt. Direkt aus den Ausführungen zur individuellen Ebene der Pathologisierung folgt der Befund, dass die Pathologisierung gesellschaftlich einen gegen den Verlust von nutzbaren Humanressourcen arbeitenden Mechanismus darstellt. Wird „das Verbrechen gegen den sichtbaren Körper des Verbrechers“34 gekehrt und an diesem wiederholt, um „Macht und Asymmetrie der Kräfte“35 zu offenbaren, die Person, die eine Regel übertreten hat, also mit brachialer Gewalt zu unterwerfen, bedeutet das nicht nur eine Wiedereinsetzung des durch Macht legitimierten Gesetzes und der dahinter stehenden Kraft, sondern auch ein ökonomisch zutiefst kostenreiches Vorgehen: In einem aufwendigen Akt wird der*die Verbrecher*in vernichtet, was nicht nur direkt Kosten produziert, sondern auch den künftigen nutzenbringenden Einsatz des vernichteten Körpers verhindert. Äquivalentes gilt für die dauerhafte Unterbringung in als bloßen Verwahranstalten dienenden Abweichungsheterotopien. Selbst die bloße Ausschließung aus der Gesellschaft nach dem Vorbild Leprakranker ist ein Verlustgeschäft: Hier ist der Aufwand zwar minimal; dennoch geht mit dem ausgesperrten Körper eine Kraft, die potentiell Nutzen produzieren kann, verloren. Ein Zugriffsmodus, der die Autonomie der Regelverletzer*innen und damit ihre Verantwortung anerkennt, der sie nicht als krank, sondern als böse lesbar werden lässt, läuft damit Gefahr, einen Strafmodus zu bedingen, der eine negative Kosten-Nutzen-Bilanz mit sich bringt.
Das jedoch erklärt nicht, dass der Mechanismus der Pathologisierung bei unterschiedlichen Delikten bereits innerhalb einer Gesellschaft und bei gleichen Delikten in verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlich starkem Maße zum Tragen kommt: Warum also wird ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom angenommen, nicht jedoch ein Elli-Link-Syndrom? Hier muss eine zweite gesellschaftliche Triebkraft am Werke sein. Plausibel ist etwa, dass das Maß der Pathologisierung – wird ein*e psychiatrische*r Sachverständige*r zu Rate gezogen? Liegt ein schuldmindernder Umstand vor? Begründet gar die Tat bereits die Krankheit? – korreliert mit der Destabilisierung, die die fragliche Tat für die Grundfeste der jeweiligen sozialen Orientierung mit sich bringt. Anders formuliert: Je mehr eine Tat, kann sie von einem normalen Menschen begangen werden, das der jeweiligen gesellschaftlichen Verfasstheit zugrundeliegende Menschenbild infrage stellt, desto eher und desto stärker wird sie durch Pathologisierung aus dem Bereich des Normalen, zu dem sich ein Mensch frei entscheiden kann, ausgeschlossen. Illustriert wird das etwa von Malte Lehming in seiner Kritik der Pathologisierung der Taten Anders Breiviks.36 Auch Thomas J. Scheff deutet, wenngleich mit leicht anderer Fokussierung, in die angeführte Richtung, indem er postuliert, dass als „‚Geisteskranker‘ etikettiert“37 wird, wer „gegen diese die Stabilität einer Gesellschaft garantierenden ungeschriebenen Übereinkünfte in bezug auf das, was als schicklich und normal gilt, derart verstößt, daß dies öffentlich als Regelbruch identifiziert wird“.38

Fazit: Psychische Störungen als „etikettierte Verletzungen sozialer Normen“?39

Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass ein Syndrom wie das als Beispiel gewählte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom damit eindeutig nicht als Krankheit im Sinne einer „materiellen Realität“40; zu verstehen ist, sondern vielmehr eine „etikettierte Verletzung[] sozialer Normen“41 darstellt, die jedoch nicht um der bloßen Benennung willen, sondern mit den beschriebenen Folgen, die letztlich auf die Nutzbarmachung des so etikettierten Individuums zielen, erfolgt. Der Wandel von der Ausschließung oder Vernichtung sich abweichend Verhaltender hin zu ihrer Disziplinierung in Apparaten der Psychiatrie oder Strafjustiz ist damit nur vordergründig eine unter humanistischen Prämissen begrüßenswerte Entwicklung, erweitert sie zentral doch die Komponente der Unterwerfung um die der Ausbeutung.
Dass das nicht das einzige Ziel der Etablierung eines diagnostischen Kodex und seiner Anwendung zur Therapie ist, ist damit – ebenso wie die aufgrund überwältigender Evidenz kaum abweisbaren potentiell positiven individuellen Effekte einer psychiatrischen Behandlung – keineswegs bestritten. Verwiesen ist vielmehr auf die mit der Etablierung und Ausweitung eines Pathologisierungsmechanismus einhergehenden Probleme.

Quellen:
1. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2021): „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69)“. In: Ders. (Hrsg.): ICD-10-GM Version 2022. Systematisches Verzeichnis. Online verfügbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2022/block-f60-f69.htm [14.11.2021].
2. Antwerpes, Frank; Franchetti, Léo (2016): Art. „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“. In: DocCheck. Flexikon. Köln. Online verfügbar unter: https://flexikon.doccheck.com/de/M%C3%BCnchhausen-by-proxy-Syndrom [11.11.2021].
3. Ebd.
4. Ebd.
5. Ebd.
6. Ebd.
7. Ebd.
8. Ebd.
9. Ebd.
10. Ebd.
11. Ebd.
12. Ebd.
13. Ebd.
14. Ebd.
15. Vgl. Rau, Chantale (2021): „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Wenn es dir schlecht geht, ist das gut“. In: ZEIT Online. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/zeit-verbrechen/2021/11/muenchhausen-stellvertreter-syndrom-muetter-kinder-kindesmisshandlung-psychologie [11.11.21].
16. Foucault, Michel (2019): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. S. 328. [orig. 1976].
17. A.a.O. S. 329.
18. Ebd.
19. Vgl. Rau, Chantale (2021): „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Wenn es dir schlecht geht, ist das gut“. In: ZEIT Online. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/zeit-verbrechen/2021/11/muenchhausen-stellvertreter-syndrom-muetter-kinder-kindesmisshandlung-psychologie [11.11.21].
20. Sartre, Jean-Paul (2019): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg. S. 753. [orig. 1943].
21. Ebd.
22. A.a.O. S. 757.
23. O.V. (o.J.): Patientenverfügung (-testament). Soltau. Online verfügbar unter: https://www.amtsgericht-soltau.niedersachsen.de/download/35592&usg=AOvVaw0hHcMBdzb6RExhvRCcpOKC [11.11.2021].
24. §20 StGB.
25. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2021): „Schizophrenie schizotype und wahnhafte Störungen (F20-F29)“. In.: Ders. (Hrsg.): ICD-10-GM Version 2022. Systematisches Verzeichnis. Online verfügbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2022/block-f20-f29.htm [11.11.2021].
26. Ebd.
27. Vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2021): „Affektive Störungen (F30-F39)“. In.: Ders. (Hrsg.): ICD-10-GM Version 2022. Systematisches Verzeichnis. Online verfügbar unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2022/block-f20-f29.htm [11.11.2021].
28. Antwerpes, Frank; Franchetti, Léo (2016): Art. „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“. In: DocCheck. Flexikon. Köln. Online verfügbar unter: https://flexikon.doccheck.com/de/M%C3%BCnchhausen-by-proxy-Syndrom [11.11.2021].
29. Foucault, Michel (2019): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. S. 64. [orig. 1976].
30. Ebd.
31. A.a.O. S. 129.
32. A.a.O. S. 43.
33. Ebd.
34. A.a.O. S. 73.
35. Ebd.
36. Vgl. Lehming, Malte (2011): „Die Pathologisierung des Bösen“. In.: Der Tagesspiegel. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.tagesspiegel.de/meinung/kontrapunkt-die-pathologisierung-des-boesen/5922718.html [11.11.2021]
37. Scheff, Thomas J. (1980): Das Etikett ‚Geisteskrankheit‘. Soziale Interaktion und psychische Störung. Frankfurt am Main. S. VI. [orig. 1973].
38. Ebd.
39. A.a.O. S. 19.
40. Sontag, Susan (2003): „Krankheit als Metapher“. In: Dies.: Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern. Frankfurt am Main. S. 50. [orig. 1977].
41. Scheff, Thomas J. (1980): Das Etikett ‚Geisteskrankheit‘. Soziale Interaktion und psychische Störung. Frankfurt am Main. S. 19. [orig. 1973].

Anmerkungen:
* Das generische Maskulinum wird im Bewusstsein der damit einhergehenden grundlegenden Probleme in der Syndrombezeichnung im vorliegenden Artikel im Sinne eines Zitats übernommen.
** Vgl. Döblin, Alfred (2013): Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Frankfurt am Main. [orig. 1924].