Intelligenztheorie: Die Myelin-Hypothese

Intelligenztheorie: Myelin-Hypothese

Welche Mechanismen und Ursachen Unterschieden in der menschlichen Intelligenz zugrunde liegen, ist noch nicht hinreichend geklärt. Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Menschen Informationen verschieden schnell verarbeiten und in unterschiedlichem Grad zu logischen Schlussfolgerungen fähig sind, liefert die Myelin-Hypothese.

Hirse im Kopf – die Anfänge der Intelligenzforschung

Die Geschichte der Erklärungsversuche für Unterschiede in der menschlichen Intelligenz reicht weit zurück. Lange wurde versucht, bestimmte physiognomische Merkmale mit der Intelligenz in Verbindung zu bringen. So erachtete man beispielsweise in der Antike Menschen mit einer bestimmten Gesichtsphysiognomie als weniger klug. Im 19. Jahrhundert begründete dann Franz Joseph Gall (1758 – 1828) die Schädellehre (Phrenologie), die die Kopfform mit geistigen Eigenschaften in Verbindung brachte. Auch die Schädelgröße sollte eine Rolle in Bezug auf die geistigen Fähigkeiten spielen. Friedrich Tiedemann (1781 – 1861) ermittelte zu diesem Zweck das Volumen von Totenschädeln auf ungewöhnliche Weise: Um Größenunterschiede zu bestimmen, füllte er Totenköpfe mit Hirsekörnern und zählte die Körner anschließend.

Francis Galton (1822 – 1911) hingegen nahm das Maßband zur Hilfe, um bei lebenden Studienteilnehmer*innen die Schädelgrößen zu bestimmen. Tatsächlich zeigte sich, dass die Schädel der besonders schlau scheinenden Köpfchen im Durchschnitt bis zu fünf Prozent größer waren. Doch entsprachen die damaligen Studien natürlich nicht aktuellen Standards und Anforderungen und sind aus heutiger Sicht kaum als seriös einzustufen.

Forschungen, in denen äußere Merkmale mit geistigen und charakterlichen Eigenschaften zusammengebracht werden, bergen darüber hinaus Gefahrenpotential: Sie wurden nicht selten politisch aufgeladen und waren Grundlage der Verfolgung bestimmter Menschen. Tragischstes und prominentestes Beispiel ist wohl die nationalsozialistische Rassenkunde, die sich unter anderem auf Galls pseudowissenschaftliche Lehre der Phrenologie bezog.

Der Blick ins Gehirn

Im 20. Jahrhundert erhielt die Wissenschaft durch neue Technologien ganz andere Möglichkeiten, der Intelligenz auf die Spur zu kommen. Denn nun konnte man Proband*innen tatsächlich hinter die Stirn blicken. Und der Fokus verlegte sich von Schädelgröße auf Gehirnvolumen.

MRT-Studien zu Beginn der 1990er-Jahre bestätigten zunächst auch einen Zusammenhang von Gehirngröße und IQ. Allerdings fanden diese ersten Studien mit sehr wenigen Proband*innen statt und sind daher in ihrer Aussagekraft fragwürdig. Mit zunehmenden Proband*innenzahlen sanken bei späteren Studien die Korrelationen. Heute kann man sagen, dass ein Zusammenhang zwischen Hirngröße und Intelligenz zwar gegeben ist, lange Zeit jedoch deutlich überschätzt wurde und in der Praxis im Grunde keine Relevanz besitzt. Das zeigt dabei schon der Vergleich zwischen Männern und Frauen. Männer haben im Schnitt ein um 130 g höheres Hirnvolumen als Frauen. Doch sie erzielen bei Intelligenztests keine besseren Ergebnisse.

Die Wissenschaft begann schließlich verstärkt zu untersuchen, welche Unteraspekte der Gehirngröße mit der Intelligenz korrelieren könnten. So geriet die graue Substanz und damit die Anzahl der Neuronen in den Fokus. Inwieweit eine höhere Anzahl der Neuronen eine höhere Intelligenz erklären kann, ist dabei nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint. Mehr Neuronen könnten mehr Möglichkeiten zur Knüpfung kognitiver Netzwerke und damit mehr Möglichkeiten zur Problemlösung bedeuten. Theoretisch kann ein größeres Netzwerk jedoch auch das genaue Gegenteil bedeuten, da es fehleranfälliger sein könnte.

Myelin und seine Aufgabe im menschlichen Gehirn

So bekamen nach und nach weitere Gegebenheiten im Gehirn vermehrt Aufmerksamkeit. Die Neuronen bilden schließlich nur eine der zwei grundlegenden Gewebearten des menschlichen Gehirns. Die „kleinen grauen Zellen“ sind in einem verschachtelten Netzwerk zusammengeschaltet und liegen als dünne Schicht auf der Hirnoberfläche – man spricht bei der grauen Substanz auch von der Hirnrinde.
Unter der Hirnrinde liegt die weiße Substanz. Beim Menschen macht sie beinahe die Hälfte des Gehirns aus. Das ist mehr als bei jedem anderen Lebewesen. Zum Großteil besteht die weiße Substanz aus Verbindungen, die je einen Nervenzellenausläufer enthalten, der Signale zu anderen Neuronen weiterleitet. Diese langen „Verbindungskabel“ heißen Axone. Und das fetthaltige und weißliche Myelin umgibt viele dieser Axone wie eine Isolierschicht ein Kabel. Man spricht im Zusammenhang mit dieser Myelinschicht auch von Myelinscheide oder Markscheide.

Lange Zeit ging man davon aus, dass das Myelin lediglich der elektrischen Isolierung diene und die Axone schlicht passive Leitungsbahnen seien. Das Augenmerk der Wissenschaft lag neben den Neuronen vor allem auf den Synapsen, den Kontaktstellen der Nervenzellen. Doch die weiße Substanz und auch und vor allem das Myelin erhielten mehr Aufmerksamkeit, als festgestellt wurde, dass geistige Betätigungen ihre Menge steigern können und dass umgekehrt bestimmte Störungen im Gehirn mit einem Mangel an Myelin zusammenzuhängen scheinen.

Auffällig ist, dass manche Axone eine dicke Myelinschicht aufweisen, andere nur sehr dünne Schichten. Zudem hat die Myelinscheide in bestimmten Abständen kleine Lücken, die sogenannten Ranvier-Schnürringe. Und: Mit einer Myelinschicht umgebene Axone leiten Nervenimpulse deutlich schneller weiter als nicht bzw. kaum isolierte Axone. Dabei springen die Signale von Schnürring zu Schnürring, wodurch die Weiterleitung besonders schnell und stabil wird.

Die Myelin-Hypothese: Myelin und Intelligenz

Die höchste Geschwindigkeit bekommen die Nervenimpulse übrigens bei einem bestimmten Verhältnis von Dicke der Myelinschicht und Axondurchmesser. Die Schlussfolgerung: Wenn im richtigen Verhältnis myelinisierte Axone Impulse schneller und besser weiterleiten, müssen Gehirne mit einer höheren Zahl dieser Axone eher in der Lage sein, Aktivitäten auf kleinere Areale zu begrenzen. Und bei Axonen ohne Myelinscheide besteht die Gefahr, dass Signale vor allem über längere Strecken verloren gehen. Allerdings heißt schneller im Gehirn nicht immer besser. Es kommt nicht zuletzt darauf an, dass die Weiterleitungen in den Axonen gut koordiniert und aufeinander abgestimmt erfolgen. Daher braucht auch nicht jedes Axon zwangsläufig eine dicke Myelinschicht.

Offen ist außerdem die Frage, wie und warum die Gliazellen, die das Myelin produzieren, erkennen wie viele Lagen Myelin sie bilden sollen. Hinweise liefern die Untersuchungen von Klaus-Armin Nave vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin Göttingen und seinem Team. Die Wissenschaftler*innen fanden heraus, dass Schwann-Zellen im peripheren Nervensystem auf ein Protein aus der Gruppe der Neureguline reagieren. Diese Moleküle kommen auf der Oberfläche von Axonen vor. Sind mehr von den Neuregulinen vorhanden als normal, werden mehrere Schichten gebildet, bei geringerer Proteinmenge weniger. Ein ähnlicher Zusammenhang könnte beim Myelin im Gehirn zu finden sein.

Myelinisierung findet bis ins Erwachsenenalter statt

Die verbesserte Leistung von Kindern mit zunehmender Reife wird mittlerweile allgemein auf die Myelinisierung zurückgeführt. Es hat sich gezeigt, dass das Ausmaß der Myelinisierung in der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter schubweise zunimmt. Dabei geschieht dies in einzelnen Arealen des Hirns unterschiedlich schnell. Manche Hirnareale sind erst gegen das 30. Lebensjahr vollständig versorgt. Auffällig ist, dass zuerst die Bereiche der Hirnrinde myelinisiert werden, die für Bewegungen und Sinneswahrnehmungen zuständig sind, und erst sehr spät die Bereiche, die für höhergradiges Denken, Planung und Urteile zuständig sind – also die Fähigkeiten, für die es nicht zuletzt eine gewisse Erfahrung braucht. Dass die Myelinisierung sich über einen so langen Zeitraum erstreckt, hängt vermutlich damit zusammen, dass sich auch die Axone bis ins frühe Erwachsenenalter entwickeln. Es stellt sich die Frage, ob die Myelinisierung damit auch abhängig von Lernprozessen oder ob sie genetisch bestimmt ist.

Kann man die Myelinisierung aktiv vorantreiben?

Erkenntnisse in dieser Hinsicht brachte die Arbeit eines Forscher*innenteams von der University of California, Los Angeles (UCLA). Ihre Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die Qualität der weißen Substanz, die durch die Unversehrtheit der sie schützenden Myelinscheide bestimmt wird, weitgehend genetisch bedingt ist.

Das UCLA-Team erstellte mithilfe eines speziellen Gehirnscanners die ersten Bilder, die die Qualität der Hirnverdrahtung zeigen. Dabei spielt eine neue Art von Magnetresonanztomographie, die als High Angular Resolution Diffusion Imaging (HARDI) bezeichnet wird, eine Rolle. Bei MRT-Scans wird in der Regel das Volumen verschiedener Bereiche des Hirngewebes gemessen, indem man die Menge des vorhandenen Wassers betrachtet. Im Gegensatz dazu können HARDI-Scans die Unversehrtheit der Myelinscheide und damit die Geschwindigkeit der Nervenimpulse messen, indem sie die Wassermenge betrachten, die durch die weiße Substanz diffundiert. „Es ist wie ein Bild Ihrer geistigen Geschwindigkeit“, erklärt der leitende Forscher Professor Paul Thompson der Zeitschrift New Scientist.
Thompsons Team untersuchte die Gehirne von 23 Paaren eineiiger Zwillinge – die bekanntlich alle ihre Gene teilen – und der gleichen Anzahl zweieiiger Zwillinge – die nur etwa die Hälfte ihrer Gene teilen – und verglich dann die resultierenden Gehirnkarten der beiden Gruppen. Es zeigte sich, dass die Integrität des Myelins in vielen Bereichen des Gehirns, die für die Intelligenz wichtig sind, genetisch bedingt ist, so in den Scheitellappen (die für Logik, visuelles und räumliches Denken zuständig sind) und im Corpus Callosum – dem Hirnbalken. Die Wissenschaftler*innen berechneten, dass eine bessere Myelinqualität in diesen Bereichen mit besseren Ergebnissen bei Tests der allgemeinen Intelligenz und des abstrakten Denkens korreliert.

Im Gegensatz zum Volumen der grauen Substanz verändert sich der Grad der Myelinintegrität im Laufe des Lebens. Wenn die Gene, die eine hohe Integrität des Myelins fördern, identifiziert werden können, könnte dies die Möglichkeiten eröffnen, die Aktivität der Gene zu steigern oder die von ihnen produzierten Proteine künstlich hinzuzufügen. Auch wenn derartige medizinische Behandlungen noch in weiter Ferne liegen, könnte dies schließlich dazu beitragen, Therapien für eine Reihe von Erkrankungen zu entwickeln, die mit einem Abbau des Myelins einhergehen. Zu diesen Erkrankungen gehören beispielsweise Autismus und Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Darüber hinaus wäre laut Thompson selbst eine Intelligenzsteigerung bei gesunden Menschen denkbar.

Bis es soweit ist, müssen wir uns anders behelfen. Denn es ist durchaus möglich, die Myelinisierung auch durch bestimmte Aktivitäten zu beeinflussen. So wurde festgestellt, dass professionelle Klavierspieler*innen in bestimmten Hirnarealen besonders viel weiße Substanz aufweisen. Dies war vor allem der Fall, wenn sie bereits in ihrer frühen Kindheit mit dem Klavierspielen begonnen hatten.

Fazit: Myelin-Hypothese

Die Myelinisierung des Gehirns scheint tatsächlich mit der Entwicklung der Intelligenz verbunden zu sein. Verantwortlich für die Myelinisierung bzw. ihren Grad sind dabei sowohl genetische als auch Umweltfaktoren. Als alleinige Erklärung der Intelligenz reicht der Verweis auf die unterschiedliche Myelinisierung jedoch nicht aus.

Quellen:
https://www.spektrum.de/news/mehr-hirn-mehr-koepfchen/1618626 (Zugriff am 12.01.2022)
https://www.spektrum.de/magazin/die-unterschaetzte-weisse-hirnmasse/965705 (Zugriff am 12.01.2022)
https://sciencev1.orf.at/news/54166.html (Zugriff am 10.01.2021)
https://www.uclahealth.org/news/study-gives-more-proof-that-intelligence-is-largely-inherited (Zugriff am 23.01.2022)
https://www.newscientist.com/gallery/mg20527535-500-slow-thinking/ (Zugriff am 23.01.2022)
https://www.sciencedaily.com/releases/2009/03/090317142841.htm (Zugriff am 24.01.2022)