Zweit- und Fremdspracherwerb: Theorien und Hintergründe

Zweit- und Fremdspracherwerb

Immer mehr Menschen lernen heute mehr als eine Sprache. Die EU hat gar die Empfehlung ausgesprochen, Programme zum Lehren und Lernen von Sprachen aufzusetzen, die darauf zielen, dass alle EU-Bürger*innen mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen. Doch wie genau läuft der Erwerb von Fremd- und Zweitsprachen ab? Welche Theorien und welche Befunde gibt es bisher?

Der Unterschied zwischen Fremd- und Zweitsprachen

Zu klären ist dabei zunächst ein begrifflicher Unterschied: Die Begriffe der Fremdsprache und der Zweitsprache sind nicht bedeutungsgleich. Bei einer Zweitsprache handelt es sich um eine Sprache, die nicht die Erstsprache ist, die im Alltag jedoch vorwiegend verwendet wird. Eine Fremdsprache ist hingegen eine Sprache, die nach der Erstsprache erlernt wurde und nur sekundär verwendet wird. Hinsichtlich des Erlernens ist dieser Unterschied durchaus von Bedeutung: Eine Zweitsprache wird häufiger als eine Fremdsprache durch Immersion, also ohne angeleiteten Unterricht alleine durch das Eintauchen in die jeweilige sprachliche Sphäre erlernt. Von Bedeutung ist das etwa in Luxemburg oder in den Karibischen Niederlanden; wer hier lebt, erlebt neben seiner Erstsprache im Alltag beständig auch eine weitere Sprache, die beherrscht werden muss, um den Alltag bewältigen zu können.

Das Prinzip der Immersion, das im Grunde dem des Erstspracherwerbs gleicht, wird heute jedoch zunehmend auch für das Erlernen von Fremdsprachen angewandt. Wichtigstes Beispiel hierfür sind bilinguale Kindergärten, in denen es mehrere Verkehrssprachen gibt, die jedoch nicht im herkömmlichen Sinne unterrichtet, sondern schlicht gebraucht werden.

Theorie: Wie lernen wir Fremd- und Zweitsprachen?

Ein erster Hinweis auf die Möglichkeiten des Zweit- und Fremdspracherwerbs ist damit bereits gegeben. Doch auf welchen Theorien basiert der institutionalisierte Sprachunterricht und mit welchen Problemen sind diese theoretischen Hintergründe verbunden?

Behaviorismus: Sprache als erlernbares Verhalten

Behavioristische Ansätze haben im Sprachunterricht lange Zeit eine zentrale Rolle eingenommen und werden auch heute – trotz massiver Kritik – vielfach noch als wesentlicher Bezugspunkt verstanden. Grundannahme des Behaviorismus ist das Verständnis des Lernens als Reiz-Reaktions-Schema: Lernen bedeutet, einen bestimmten Reiz mit einer bestimmten Reaktion zu verbinden. Umgesetzt wird das mittels Konditionierung. Was dabei genau innerhalb der Psyche geschieht, ist laut behavioristischer Theorie irrelevant: Der Geist ist eine Black-Box, wichtig ist nur der passende Output zum Input.

Burrhus F. Skinner, einem Hauptvertreter des Behaviorismus, zufolge ist eine Sprache wie jedes andere Verhalten erlernbar. Für den Sprachunterricht bedeutet das, dass die zentrale Aufgabe darin besteht, auf einen bestimmten Reiz hin, etwa eine Vokabel, die richtige Reaktion zu etablieren. Belohnungen und Bestrafungen sollen den Lernerfolg sicherstellen. Besonders prominent war die sog. audiolinguale Methode, die in Sprachlaboren durchgeführt wurde. Die Schüler*innen hörten hierbei über Kopfhörer eine fremdsprachliche Aufnahme, die sie nachsprechen mussten. Sie waren dabei mit dem Lehrer*innenpult verbunden und erhielten direktes Feedback zu ihrer Aussprache. Außerdem behavioristisch orientiert sind viele Sprachlernapps, die mit Belohnungssystemen für korrekte Reproduktion arbeiten.

Nativismus: Sprache als angeborene Fähigkeit

Nativistische Theoretiker*innen vertreten eine völlig andere Position: Die Fähigkeit zur Sprache ist ihrer Meinung nach angeboren und muss gewissermaßen nur noch aktiviert werden. Besonders prominent ist hierbei Noam Chomskys Theorie der Universalgrammatik, der zufolge alle menschlichen Sprachen auf wenigen grammatikalischen Grundlagen basieren, die dem Menschen angeboren sind.

Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet das, dass es hierbei nicht darum geht, neue Fertigkeiten zu erwerben. Alles, was benötigt wird, um die neue Sprache zu beherrschen, steckt bereits im Hirn. Ziel des Unterrichts ist folglich lediglich die Aktivierung des bereits Vorhandenen. Konkrete didaktische Konzepte können hieraus nicht folgen; nativistische Theorien legen vielmehr nahe, dass die konkrete didaktische Ausrichtung des spezifischen Unterrichts wenig relevant ist – Grammatik und Co müssen schließlich nicht neu erworben und korrekt vermittelt, sondern nur die dafür zuständigen angeborenen Areale aktiviert werden. Wie genau das funktionieren soll, ist dabei nicht im Detail geklärt. Nativistische Modelle eignen sich daher kaum als Leitschnur für den Sprachunterricht; sie zielen vielmehr auf die Beschreibung des immersiven Erstspracherwerbs.

Interaktionismus: Sprache als Produkt sozialer Interaktion

Für den Interaktionismus gilt ähnlich wie für den Nativismus, dass er sich nur sehr begrenzt als Ausgangspunkt didaktischer Konzepte eignet und sich vielmehr als deskriptiv versteht. Zugute gehalten werden muss den interaktionistischen Theorien jedoch, dass sie zumindest im kindheitspädagogischen Bereich durchaus als Ansatzpunkt einer Fremd- und Zweitsprachendidaktik dienen können.

Kernpunkt des Interaktionismus ist die These, dass Spracherwerb das Produkt sozialer Interaktion ist. Die Bedeutungen von Wörtern und Sätzen werden Interaktionist*innen zufolge aus dem Kontext ihrer Verwendung destilliert. Illustrieren lässt sich das besonders gut am Beispiel von Begrüßungen und Verabschiedungen: Der interaktionistischen Theorie zufolge lernen Kinder die Bedeutung des Wortes ‚Hallo‘, indem sie es immer wieder beim Auftauchen von Personen oder Gegenständen hören. Wichtig ist hierbei, dass Jerome Bruner, Hauptvertreter des Interaktionismus, ähnlich wie Chomsky eine angeborene Grundgrammatik voraussetzt – so lässt sich erklären, wie aus den in sozialer Interaktion erlernten Wörtern irgendwann korrekte Sätze gebildet werden.

Die interaktionistische Theorie versteht sich zwar als empirischer Zugriff auf den Erstspracherwerb, kann für den Fremdsprachunterricht vor allem mit kleineren Kindern jedoch insofern fruchtbar gemacht werden, als auf dieser Theorie aufbauend die Betonung sozialer Interaktion als Unterrichtsbestandteil begründet werden kann. So lassen sich etwa Zeigegesten, Mimiken oder Handlungen wie das Betreten und Verlassen des Raumes mit spezifischem Vokabular verbinden, um ein interaktionsbasiertes Lernen zu unterstützen.

Kognitivismus: Sprachkenntnisse als Ergebnis korrekter Informationsverarbeitung

Der Kognitivismus versteht das Lernen als Prozess der Informationsverarbeitung. Er möchte also die Black-Box des Behaviorismus aufschließen und ergründen, wie genau Reize verarbeitet und so Reaktionen erzeugt werden. Hinsichtlich der Fremdsprachendidaktik besonders relevant ist die Vorstellung, dass eine Sprache nur erlernt werden kann, wenn ihre Grundlagen verstanden werden. Anders formuliert: Für die erfolgreiche Informationsverarbeitung ist es von Bedeutung, diese Informationen zu durchdringen und einordnen zu können. Erstes Ziel des kognitivistischen Sprachunterrichts ist es daher, das Sprachsystem zu vermitteln – etwa durch klassischen Grammatikunterricht.

Weitere empirische Erkenntnisse bezüglich der optimalen Verarbeitung von Informationen betreffen etwa die Aufnahmefähigkeit, die Relevanz von Wiederholungen und die gestufte Vermittlung von Sprachkenntnissen, die auf die Anknüpfbarkeit an bereits erworbenes Wissen setzt. Wichtige Beispiele für kognitivistisch orientiertes Fremdsprachenlernen sind etwa Vokabellernprogramme, die sich in der Anzahl der pro Runde abgefragten Vokabeln ebenso wie im Abfragerhythmus an Erkenntnissen zu Informationsverarbeitungsprozessen orientieren. Auch im schulischen Unterricht sind kognitivistisch orientierte bzw. auf Studien zur Informationsverarbeitung basierte Methoden von Bedeutung – etwa in der Priorisierung des Verstehens gegenüber der bloßen Reproduktion.

Konstruktivismus: Sprachkenntnisse als Ergebnis von Konstruktionsprozessen

Konstruktivistische Lerntheorien fokussieren die lernenden Individuen noch weitaus stärker als kognitivistische. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass es korrektes Wissen nicht geben kann: Es gibt keine objektive Perspektive auf die Welt und somit keine richtige Position. Für den Unterricht bedeutet das, dass er nicht auf die Erzeugung korrekter Outputs oder korrekter Informationsverarbeitungsprozesse zielen kann; er muss vielmehr die Lernenden in ihrer Subjektivität ernstnehmen. Sie konstruieren selbstständig neues Wissen und neue Kompetenzen, wobei sie auf ihre bisherigen je individuellen Erfahrungen und Problemlösekompetenzen zurückgreifen, die sie so ferner notwendig einer Überprüfung am neuen Gegenstand unterziehen. Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet das etwa, an die bereits bestehenden Sprachkenntnisse der Schüler*innen anzuknüpfen und sie ihre Lernprozesse selbstständig gestalten zu lassen. Lehrer*innen werden damit zu Lernbegleiter*innen, die beraten und unterstützen, aber nicht mehr vorrangig Wissen vermitteln. Das bedeutet auch, dass Lerninhalte ebenso wie Lernmethoden weitgehend selbst gewählt werden.

Im Unterricht haben sich Methoden wie das Stationenlernen, der Projektunterricht, problemorientiertes Lernen oder Lernen durch Lehren etabliert. Alle zeichnen sich dadurch aus, dass die Schüler*innen (in unterschiedlichem Maße) frei sind, Gegenstand, Ziel und Methode ihres Lernens selbst zu bestimmen. So wird auch dem Umstand ganz unterschiedlichen Vorwissens Rechnung getragen.

Kommunikative Didaktik

Die kommunikative Didaktik greift unterschiedliche Lerntheorien auf und stützt sich vor allem auf interaktionistische und konstruktivistische Perspektiven. Interessant ist sie im Kontext des Sprachunterrichts vor allem, da sie explizit als didaktisches Konzept entwickelt wurde und damit wesentlich praktischer orientiert ist als die bisher vorgestellten Theorien. Kernpunkt der kommunikativen Didaktik ist dabei die Betonung der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden sowie unter den Lernenden: Die Beziehungsdimension des Unterrichts wird stärker betont, wobei die Lernenden im Sinne des Konstruktivismus in ihrer Subjektivität betont werden.

Konkret heißt das, dass gelungener Fremdsprachenunterricht sich nicht durch eine technisch ausgeklügelte Vermittlung fertigen Wissens auszeichnet, sondern durch die Einbindung der unterschiedlichen Lernenden in ein kommunikatives Setting: Sie gestalten den Unterricht durch ihre Beiträge und Ideen aktiv, tauschen sich untereinander aus und reflektieren die dabei entstehenden Dynamiken. Im Fremdsprachenunterricht ist dieser Ansatz besonders interessant, da er die Aktivität und damit das Sprechen der Zielsprache fördert.

Empirie: Erfolgs- und Risikofaktoren

Einige wesentliche Fragen stehen jedoch auch nach der Behandlung der wesentlichen theoretischen Ansatzpunkte des Fremdsprachunterrichts noch aus: Welche individuellen Faktoren erleichtern bzw. erschweren den Erwerb von Fremd- und Zweitsprachen? Hierzu hat es zahlreiche Untersuchungen gegeben, deren wesentliche Befunde nachfolgend vorgestellt werden sollen.

Allgemeine sprachliche Kompetenz

Wichtig sind den bisherigen Untersuchungen zufolge in hohem Maße die allgemeinen sprachlichen Kompetenzen: Je besser die Erstsprache beherrscht wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass weitere Sprachen erfolgreich erworben werden können.

Lernmotivation

Daneben nimmt auch die Lernmotivation eine wichtige Rolle ein. Lernende mit intrinsischer Motivation sind im Durchschnitt erfolgreicher als solche mit extrinsischer. Wer Fremdsprachen aus Freude an der jeweiligen Sprache erwirbt oder lernen will, weil sich – so die Theorie sprachlicher Relativität – damit ganz neue Welten erschließen, hat also bessere Chancen, dabei erfolgreich zu sein, als eine Person, die alleine aus beruflichen Gründen lernt.

Lernerfahrung und -kompetenz

Beobachtet werden konnte außerdem, dass die bisherigen Lernerfahrungen einen Einfluss auf den Erfolg des Zweit- bzw. Fremdspracherwerbs haben. Wer bereits eine zweite Sprache erlernt hat, hat sich dabei in der Regel Lernstrategien erarbeitet, die es erleichtern, in der Folge weitere Sprachen zu erlernen. Konstruktivistisch orientierter Unterricht nimmt diesen Punkt besonders stark auf und setzt an den bereits erworbenen, individuell sehr unterschiedlichen Sprachlernkompetenzen an.

Sprachverwandtschaft

Nicht zu unterschätzen ist darüber hinaus der Einfluss der gewählten Zielsprache auf den Lernerfolg. Die verschiedenen menschlichen Sprachen unterscheiden sich massiv voneinander; Sprachen, die bereits beherrschten Sprachen ähnlich sind, lernen wir dabei schneller als solche, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. In der Praxis bedeutet das etwa, dass Sprechende des Französischen schneller Spanisch als Deutsch, Sprechende des Deutschen schneller Niederländisch als Portugiesisch oder Sprechende des Norwegischen langsamer Ungarisch als Dänisch lernen.

Rein positiv zu bewerten ist die Sprachverwandtschaft jedoch nicht, da sog. false friends das Vokabellernen teilweise erschweren und grammatikalische Besonderheiten der anderen Sprache bei sonstiger weitgehender Übereinstimmung mitunter übergangen werden. Interessant sind Konzepte, die in konstruktivistischer Tradition an die bereits vorhandenen Erstsprachen anknüpfen und spezifische Lernprogramm für Sprechende unterschiedlicher Erstsprachen anbieten.

Immersionsgrad

Lange wenig beachtet wurde der Immersionsgrad, der sich jedoch maßgeblich auf den Erfolg des Sprachlernens auswirkt: Je stärker wir im Alltag mit einer Sprache in Kontakt kommen, desto eher und desto besser werden wir sie erlernen. Immersion kann dabei nicht nur durch Auslandsaufenthalte erreicht, sondern auch im Unterricht bzw. im eigenen Alltag simuliert werden. Populär ist hierbei etwa das Konzept, den Unterricht von Beginn an konsequent ausschließlich in der Zielsprache zu halten. Auch der Rückgriff auf alltägliche Situationen im Unterricht und eine Medienmischung, die den Alltagsanforderungen nahekommt simuliert Immersion.

In diesem Kontext kann etwa darauf verwiesen werden, dass lange missachtete Formate wie Fernsehserien, Podcasts, Chats und Co durchaus einen wertvollen Beitrag zum Erwerb einer Fremd- oder Zweitsprache darstellen können. Hierdurch wird ein alltagsnaher Sprachkontakt ermöglicht, der Lernprozesse auch abseits formalisierter Kontexte ermöglicht – und damit besser als streng systematisierter Unterricht auf den tatsächlichen Sprachgebrauch vorbereitet.

Fazit: Zweit- und Fremdspracherwerb

Abschließend lässt sich festhalten, dass es kein einfaches Rezept für den erfolgreichen Erwerb von Zweit- und Fremdsprachen gibt. Festgestellt werden muss vielmehr eine enorme Pluralität und Heterogenität theoretischer Perspektivierungen des Sprachunterrichts und -erwerbs. Abseits davon kann jedoch durchaus festgestellt werden, dass einige Faktoren, die für den Erfolg des Sprachenlernens wesentlich sind in unterschiedlichen Studien herausgearbeitet werden konnten. Auch hier bietet sich jedoch wieder eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Aspekte, die von den Vorkenntnissen über die Motivation und die Verwandtschaft bereits beherrschter und zu lernender Sprachen bis hin zur Unterrichtssituation reichen.