Musik: Mit Achtsamkeit gegen die Auftrittsangst

Wer kennt diese Situation nicht? Man muss in der Uni oder am Arbeitsplatz vor Kommiliton*innen, Kolleg*innen oder Vorgesetzten einen Vortrag halten und ist plötzlich ganz schön nervös. Die Symptome dabei reichen von zittrigen und schweißnassen Händen über rote Flecken im Gesicht bis hin zum nervösen Magen. Das ist zwar unangenehm, verfliegt jedoch meist nach den ersten Minuten des Vortrages. Was aber passiert, wenn sich diese Nervosität nicht auf einzelne Momente im Berufsalltag bezieht, sondern das Berufsleben regelrecht bestimmt? Für viele Berufsmusiker*innen ist die Nervosität vor und während eines Auftrittes ein enormes Problem. 15-25% unter ihnen leiden an Music Performance Anxiety (im Folgenden auch als Auftrittsangst oder MPA bezeichnet), die teilweise so belastend ist, dass die Leidtragenden ihren Beruf aufgeben. Nur 10% der Betroffenen holen sich professionelle Hilfe (Fernholz et al., 2019). Aber warum ist diese Auftrittsangst bei Musiker*innen, bei denen Auftritte fast schon zur Berufsroutine gehören, so stark ausgeprägt?

Woher kommt Auftrittsangst bei professionellen Musiker*innen?

In einer Studie der Psychologin und Musikerin Dianna T. Kenny (2011) war die am häufigsten genannte Ursache für die Auftrittsangst der „Druck von sich selbst“ (66,2%). Die subjektiv „unzureichende Vorbereitung auf den Auftritt“ wurde von den Musiker*innen am zweithäufigsten genannt.
Dieser Selbsteinschätzung steht die Wahrnehmung des Publikums entgegen: Im Publikum verschwendet während eines Konzerts vermutlich niemand einen Gedanken daran, die Profimusiker*innen des Orchesters seien nicht ausreichend auf das Konzert oder die Vorstellung vorbereitet gewesen. Stattdessen werden eher Virtuosität und musikalische Meisterleistung bewundert. Wie kommt es also zu der signifikant negativeren Selbsteinschätzung?

Die Betrachtung eines typischen Werdegangs von professionellen Musiker*innen bringt Licht ins Dunkel dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen von Musizierenden und Zuhörenden. Um professionell auftreten zu können und eine Stelle an einem Staatstheater oder einer Oper zu ergattern, nehmen viele Musiker*innen einen steinigen Weg auf sich. Nicht nur, dass die Stellen hart umkämpft sind; ein Leben lang bestimmt ein Höchstmaß an Disziplin den Alltag vieler Musiker*innen. Ihre Tage sind gefüllt mit stundenlangem intensivem Üben. Aufgrund des Drucks aus dem sozialen Umfelde, aber auch durch den Druck, den sich die Musiker*innen selbst machen, fühlen sich viele permanentem Stress ausgesetzt. Passend dazu fanden norwegische Wissenschaftler*innen (Vaag, Bjørngaard, & Bjerkeset, 2016) heraus, dass Profimusiker*innen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen deutlich häufiger an Depressionen und Angststörungen erkranken.

Fassen wir also zusammen: Musiker*innen, die an Music Performance Anxiety leiden, sehen im durch sich selbst ausgeübten Druck die Hauptursache ihrer Beschwerden. Dieser Druck geht auf die lebenslang antrainierte Disziplin und den unsicheren und hart umkämpften Arbeitsmarkt zurück.
Besonders bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass die Musiker*innen, die ihr Ziel einer hervorragenden Leistung durch intensives Üben und Unbarmherzigkeit mit sich selbst erreichen wollen, meist das Gegenteil erreichen. So zeigte die Psychologin Virginia Farnsworth-Grodd (2012) in ihrer Dissertation, dass die Leistung während einer Musikperformance stark vom Ausmaß der Auftrittsangst (MPA) abhing: Je weniger Angst, desto besser die faktische Leistung. Kreativitätsverlust und Ineffektivität sind weitere Folgen der MPA, die von den Betroffenen eigentlich gerade vermieden werden wollen – ein Teufelskreis:

Der Teufelskreis der Auftrittsangst bei Musiker*innen
Der Teufelskreis der Auftrittsangst bei Musiker*innen.

 

…, der sich jedoch durchbrechen lässt. Mit Achtsamkeitstraining.

Wege aus der Auftrittsangst

Wie beim Betrachten des Kreislaufes vielleicht auffällt, beziehen sich die Gedanken vor allem auf vergangene Ereignisse wie den letzten Auftritt, der vielleicht nicht perfekt gelaufen ist, oder auf zukünftige Auftritte, die durch intensives Üben in jedem Fall besser werden müssen als der letzte.
Achtsamkeit hingegen wird als ein Zustand beschrieben, in dem man sich bewusst auf den gegenwärtigen Moment konzentriert. Dieser gegebene Moment wird im achtsamen Denken wertfrei akzeptiert und anerkannt, ohne sich in Gedanken über die Situation oder in emotionalen Reaktionen darauf zu verlieren.
Das Prinzip der Achtsamkeit hat inzwischen auch Eingang in die Psychologie und die therapeutische Arbeit gefunden, wofür maßgeblich das Konzept der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) verantwortlich ist. MBSR zielt darauf, Menschen zu lehren, stressige Situationen achtsam anzugehen, so dass sie bewusst auf die Situation reagieren können, anstatt sich unbewusst von ihren Emotionen leiten zu lassen (Bishop, 2002).
Vor Kurzem habe ich den sehr interessanten Vortrag der Sängerin Birte Dalbauer-Stokkebæk beim Kongress für Tanzmedizin zur MBSR verfolgt. Auch Dalbauer-Stokkebæk litt an Auftrittsangst, welche sie mit MBSR überwinden konnte. Heute ist sie selbst MBSR-Trainerin und bietet Coachings für Profimusiker*innen an, die unter MPA leiden.
Für Dalbauer-Stokkebæk zeichnet sich Achtsamkeit, nicht nur dadurch aus, im Augenblick präsent zu sein – sie setzt sich aus folgenden acht inneren Haltungen zusammen (Dalbauer-Stokkebæk, 2021):

1. Nicht urteilen, Wertfreiheit:
Der Mensch neigt zum Negativity Bias, also dazu, Negativem mehr Gewicht zuzuschreiben als Positivem. Wir tendieren dazu, Situationen einseitig zu betrachten, und treffen emotionsgeleitet und aus Angst häufig unreflektierte Entscheidungen. Die in der Achtsamkeit praktizierte Wertfreiheit und das Im-Moment-Sein geben uns die Möglichkeit, Situationen differenzierter einzuschätzen und angemessener zu reagieren (Kiken & Shook, 2011).

2. Geduld
Wer ungeduldig ist, versucht, etwas zu steuern, was nicht in seiner Macht liegt, und bewegt sich dabei gedanklich schon in der Zukunft. Musik aber passiert im Moment! Darüber hinaus bringt Ungeduld nicht weiter, sie macht stattdessen unzufrieden und setzt uns unter Druck und Stress. Das Stressmodell von Lazarus zeigt, welche weitreichenden negativen Konsequenzen Stress auf uns und unseren Körper hat.

3. Anfänger*innengeist
Anfänger*innengeist? Das scheint mit der Tätigkeit professioneller Musiker*innen auf den ersten Blick nicht zu vereinen. Betrachten wir das Gegenteil: Expert*innengeist bzw. den Drang nach Expertise und danach, immer besser zu werden. Dann wird deutlich, dass auch hierbei selbstaufgebauter Druck eine große Rolle einnimmt. Mit Anfänger*innengeist hingegen trauen wir uns, etwas nicht zu wissen und Neues zu entdecken. Er zeichnet sich aus durch kindliche Naivität, Neugierde, Offenheit und Freiheit und führt dadurch zu mehr Spontanität und Kreativität. Das Streben danach, Expert*in zu sein, bewirkt hingegen das Gegenteil – es beschränkt den Blick, führt zu Druck, Stress und Angst. Und wie wir schon im Teufelskreis der MPA gesehen haben, ist Kreativitätsverlust – etwas, das Musiker*innen gemeinhin fürchten – eine häufige Folge von Auftrittsangst.

4. Selbstvertrauen
Um als Musiker*in erfolgreich zu sein, braucht man Selbstvertrauen in sein Können. Das nicht-urteilende Betrachten befähigt dazu, ein klares Bild des eigenen musikalischen Könnens zu erlangen, unsere Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren. Diese Vertrautheit in sich selbst wiederum stärkt das Selbstvertrauen und die eigene Intuition.

5. Nicht-Streben
Das Nicht-Streben ist keinesfalls gleichzusetzen mit Ziellosigkeit und Antriebslosigkeit, die so viele professionelle Musiker*innen fürchten, weil sie mit ihnen einen Leistungsabfall assoziieren.
Etwas anzustreben hingegen bedeutet, so schnell wie möglich zu einem Ziel zu gelangen. Der Fokus liegt also in der Zukunft und nicht im Hier-und-Jetzt. Musik aber findet im Hier-und-Jetzt statt! Das Nicht-Streben ist also die bewusste Haltung fürs kluge, verantwortungsvolle Sein-Bestes-Geben im gegenwärtigen Moment und unterscheidet sich damit sowohl von der auf nichts zielenden Ziellosigkeit als auch vom in die Zukunft denkenden Anstreben.

6. Selbstakzeptanz
Genauso wie das Nicht-Streben ist Akzeptanz häufig negativ konnotiert, da sie mit Resignation assoziiert wird. Betrachtet man aber das Gegenteil von Akzeptanz, nämlich Ablehnung und Klammern, wird deutlich, dass dieser Versuch, dem Gegebenen zu entfliehen, ein Abwehrmechanismus ist, der wiederum Stressreaktionen im Körper auslöst. Die Bereitschaft, gegebene Dinge wahrzunehmen und anzuerkennen, jedoch ist die Grundlage für Veränderungen, für neue Wege und nicht zuletzt auch Voraussetzung für Achtsamkeit.

7. Loslassen
Mit Akzeptanz geht auch das Loslassen einher. Negative Erfahrungen und die andauernde geistige Beschäftigung mit ihnen rauben uns Energie und hindern uns daran, uns weiterzuentwickeln. Wer ständig in der Vergangenheit hängt, hat keine Kapazität, sich auf die Gegenwart einzulassen. Das MBSR unterstützt dabei, sich für das bewusste Loslassen zu entscheiden.

8. Selbstmitgefühl, Self-Compassion
Self-Compassion ist unserer westlichen Gesellschaft bislang ein eher unbekannter Begriff – leider.
Das Gegenteil von Selbstmitgefühl hingegen ist uns allen, nicht nur Profimusiker*innen, ein alter Bekannter: der innere Kritiker oder gerne auch Drill-Instructor. In den sozialen Spielregeln unserer westlichen Leistungsgesellschaft ist es normal, ja sogar erwünscht, sich selbst zu viel abzuverlangen und sich schlecht zu behandeln. Unser innerer Kritiker will, dass wir die Erwartung, perfekt zu sein, erfüllen.
Dieser Schutzmechanismus, der uns vor sozialer Ablehnung und negativen sozialen Urteilen bewahren will, schießt allerdings häufig übers Ziel hinaus, denn er führt meistens dazu, dass wir uns gegen uns selbst richten. Denn mit dem Streben nach Perfektion verfolgen wir ein unerreichbares Ziel, was zwangsläufig zu Frustration und Enttäuschung führt. Das Gegenteil des inneren Kritikers ist die Self-Compassion – das Selbstmitgefühl und der letzte und auch wichtigste Punkt von Achtsamkeit. Das Mitgefühl mit anderen kennen wir alle. Es ist essenziell für das Überleben und die Anerkennung im sozialen Miteinander. Aber was ist mit dem Mitgefühl mit uns selbst? Fürsorglich mit sich selbst umzugehen, haben viele verlernt. Self-Compassion ist jedoch wichtig für unsere körperliche und geistige Gesundheit. Nicht zuletzt konnte die isländische Pianistin und Psychologin Ástríður A. Sigurðardóttir (2020) zeigen, dass Profimusiker*innen, die mehr Mitgefühl mit sich selbst haben, auch weniger unter Musical Performance Anxiety leiden.

MBSR-Training für Musiker*innen

Self-Compassion und alle weiteren Aspekte der Achtsamkeit können mir der Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Methode (MBSR) geübt und entwickelt werden.Abschließend möchte ich deshalb noch beschreiben, wie ein solches MBSR-Training aussehen kann.
Das MBSR-Training wurde als zweimonatiges Gruppenprogramm entwickelt, bei dem die Gruppe einmal wöchentlich für circa 2,5h zusammenkommt. Zusätzlich praktizieren die Teilnehmer*innen die gelernten Übungen täglich zuhause. Die Methoden sind dabei vielfältig: Von der Konzentration auf den eigenen Atem bis zu Sinneswahrnehmungen wie Hören, Sehen und auch Emotionen sind auch etwas fortgeschrittenere Übungen wie der Bodyscan enthalten, bei dem alle Körperteile gespürt und die Empfindungen dabei ohne Wertung wahrgenommen werden sollen. Kurz: Bei allen Übungen geht es darum, die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken und zu üben, präsent und ganz bewusst im Moment zu sein, ohne sich in Wertungen oder Gedanken an Vergangenheit und Zukunft zu verlieren.

Achtsamkeitsübungen (nicht nur) für Musiker*innen mit Auftrittsangst

Achtsamkeitsübungen sind dabei nicht nur für Musiker*innen mit Auftrittsangst ein empfehlenswertes Mittel, um mit Nervosität, Stress und Druck besser umgehen zu können. Die Übungen für mehr Achtsamkeit eignen sich für alle, die sich ertappen, mit ihren Gedanken manchmal eher in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu verweilen, als mit vollem Bewusstsein den Moment zu genießen.
Ein kostenloses Online-Achtsamkeitstraining wird beispielsweise von der Techniker-Krankenkasse angeboten und ist über folgenden Link zugänglich: https://www.tk.de/techniker/magazin/life-balance/aktiv-entspannen/body-scan-download-2007110?tkcm=ab

Quellen:
Bishop, S. R. (2002). What do we really know about mindfulness-based stress reduction? Psychosomatic Medicine, 64(1), 71–83.
Dalbauer-Stokkebæk, B. (2021, March). Mindfulness-based Musician Performance. ta.med. Psyche und Mentaltraining, Online.
Farnsworth-Grodd, V. (2012). Mindfulness and the self-regulation of music performance anxiety (Doctoral dissertation). Auckland.
Fernholz, I., Mumm, J. L. M., Plag, J., Noeres, K., Rotter, G., Willich, S. N., . . . Schmidt, A. (2019). Performance anxiety in professional musicians: A systematic review on prevalence, risk factors and clinical treatment effects. Psychological Medicine, 49(14), 2287–2306. https://doi.org/10.1017/S0033291719001910
Kenny, D. T. (2011). Epidemiology of music performance anxiety, 83–108. https://doi.org/10.1093/acprof:oso/9780199586141.003.0030
Kiken, L. G., & Shook, N. J. (2011). Looking Up. Social Psychological and Personality Science, 2(4), 425–431. https://doi.org/10.1177/1948550610396585
Sigurðardóttir, Á. A. (2020). The role of self-compassion in music performance anxiety (BSc). Reykjavik University. Retrieved from http://hdl.handle.net/1946/36443
Vaag, J., Bjørngaard, J. H., & Bjerkeset, O. (2016). Symptoms of anxiety and depression among Norwegian musicians compared to the general workforce. Psychology of Music, 44(2), 234–248. https://doi.org/10.1177/0305735614564910