Der frühpädagogische Ansatz Emmi Piklers wird heute vor allem in speziellen Weiterbildungsangeboten, aber auch in populären Ratgebern aufgegriffen. Ferner ist der Name einigen Eltern und Erzieher*innen durch nach Pikler benannte Spielgeräte bekannt. Tatsächlich handelt es sich bei der Pikler-Pädagogik um ein elaboriertes pädagogisches Konzept, das im Kontext der Heimentwicklung erarbeitet wurde und auf drei Säulen fußt: freie Bewegungsentwicklung, freies Spiel und beziehungsvolle Pflege.
Die Entwicklung des Pikler-Ansatzes: Heimerziehung und unfreie Bewegungen
Der Entstehungskontext der Pikler-Pädagogik ist für das Verständnis des Ansatzes von enormer Bedeutung. Ebenso wie andere reformpädagogische Ansätze lässt er sich in seiner Wirkkraft vor allem vor dem Hintergrund derjenigen pädagogischen Theorien und Praxen, von denen er sich explizit absetzt, am besten begreifen. Entwickelt wurden die Ideen des Pikler-Ansatzes von der Kinderärztin Emmi Pikler im Rahmen der Erziehung ihrer eigenen Tochter ab den 1930er-, vor allem aber im Kontext ihrer Arbeit in einem ungarischen Säuglingsheim ab den späten 1940er-Jahren. Absetzungspunkt der Pikler-Pädagogik ist damit das zu dieser Zeit virulente Verständnis von Säuglingen und Kleinkindern, das diese weitgehend mechanistisch als primär mit physischen Bedürfnissen ausgestattet versteht. Entsprechend beschränkte die konventionelle Erziehungsarbeit sich in dieser Altersgruppe zentral auf die Stillung dieser basalen Bedürfnisse – ohne dem Bindungsbedürfnis, anderen emotionalen Bedürfnisse, der kindlichen Neugierde oder einer allgemein entwicklungsförderlichen Umgebung ausreichende Beachtung zu schenken.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich werden, dass Piklers Ansatz – ebenso wie andere reformpädagogische Ideen – durchaus als revolutionär verstanden werden kann, insofern er mit der Idee des Kindes als Objekt einer normierten Pflege- und Aufziehbehandlung brach und stattdessen eine Pädagogik vom Kinde aus instituierte. Doch wie genau sieht der Ansatz aus und was bedeutet es, das Kleinkind als Subjekt ins Zentrum der pädagogischen Praxis zu stellen?
Freie Bewegungsentwicklung als Kern der Pikler-Pädagogik
Die freie Bewegungsentwicklung ist der wohl populärste Aspekt des Ansatzes von Pikler. Der Kerngedanke besteht darin, die natürliche Bewegungsentwicklung des Kindes weitgehend ohne Einschränkungen verlaufen zu lassen. Anthropologisch impliziert das die Annahme, das Entwicklungsziel des Menschen sowie die Fähigkeit, dieses zu erreichen, lägen bereits wesenhaft in ihm. Pädagogische Interventionen, die gemeinhin auf die Vorgabe von Entwicklungszielen und/oder das Schaffen von Wegen zu deren Erreichung zielen, macht das weitgehend obsolet. Die Aufgabe der Erzieher*innen besteht folglich vor allem in der Beobachtung der Kinder, die – anders als herkömmlicherweise – jedoch nicht absichtsvoll in bestimmte Körperpositionen gebracht werden.
Entwickelt hat Pikler ihre diesbezüglichen Ideen im Säuglingsheim Lóczy, in dem sie arbeitete und die Bewegungsabläufe der Kleinkinder dokumentierte. Sie kam hierbei zu dem Schluss, dass vor allem sog. Übergangsbewegungen zwischen zwei Körperhaltungen für die Entwicklung der Bewegungskompetenz von großer Bedeutung seien. Gerade diese jedoch werden unterbunden, wenn die Erzieher*innen den Positionswechsel vornehmen.
Bezogen ist die Freiheit in der Bewegungsentwicklung jedoch nicht nur auf Positionswechsel, sondern auf schlechthin alle Bewegungen, die das Kind ausführt. Dorothee Gutknecht und Christine Bader weisen diesbezüglich darauf hin, dass das etwa auch Bewegungsabläufe beim Essen und Trinken einschließt (vgl. Gutknecht/Bader, 2021; S. 6).
Verbunden mit der nicht reglementierten Entwicklung der Bewegungsabläufe ist, so Anna Tardos, die Tochter Emmi Piklers und heutige Leiterin des Pikler-Instituts, eine positive Entwicklung der Körperwahrnehmung und Kompetenzabschätzung seitens des Kindes (vgl. von Gosen/Wettich, 2009; S. 8). Ist die freie Entwicklung der Bewegungsabläufe Voraussetzung der beschriebenen Kompetenzen, was Tardos zwar nicht explizit anführt, aber durchaus zu implizieren scheint, so müssen bewegungspädagogische Interventionen dem Pikler-Ansatz folgend nicht nur als überflüssig, sondern sogar als entwicklungshinderlich verstanden werden.
Freies Spiel in geschützter Umgebung
Werden die Bewegungsabläufe des Kindes nicht durch Erzieher*innen kontrolliert, so schließt das forciertes Spielen aus – schließlich wäre damit die Vorgabe spezifischer Bewegungsmuster verbunden. Aus der Orientierung an der natürlichen Bewegungsentwicklung des Kindes folgt damit die Freiheit des kindlichen Spiels. Anders als in der reinen Bewegungsentwicklung werden bestimmte pädagogische Eingriffe im Bereich des Spiels jedoch als entwicklungsförderlich beschrieben: Der Gestaltung des Spielraumes kommt Pikler zufolge eine enorme Bedeutung zu. So soll er nicht nur frei von Gefahren sein, sondern auch Anregungen und Herausforderungen zur Verfügung stellen, deren Annahme den Kindern jedoch freisteht. Von konventionellen spiel- und bewegungspädagogischen Ansätzen setzt die Pikler’sche Spielpädagogik sich dabei dadurch ab, dass die Erzieher*innen die Kinder nicht anleiten, ihnen die Spielmaterialien nicht zeigen oder anreichen oder in anderer Weise zu animieren versuchen (vgl. von Gosen/Wettich, 2009; S. 9). Ihre Aufgabe beschränkt sich somit auf das Herstellen einer als lernförderlich verstandenen Umgebung. Zu den Elementen einer solchen zählen klassischerweise etwa das sog. Pikler-Dreieck, Spiel- und Entdeckungsmaterialien wie etwa Bälle oder Kisten, aber auch Ruheräume.
Beziehungsvolle Pflege – das Kind als Subjekt
Kern der beziehungsvollen Pflege, die die dritte Säule des Pikler-Ansatzes bildet, ist die wertschätzende Arbeit mit dem Kind. Erzieher*innen haben nicht nur die Aufgabe, dem Kleinkind eine optimale Entwicklung zu ermöglichen, sondern müssen es auch körperlich pflegen. Zu verweisen ist hier etwa auf das An- und Umziehen, das Duschen oder ähnliche Tätigkeiten, die kleine Kinder und insbesondere Säuglinge nicht alleine durchführen können. Dem Ansatz der beziehungsvollen Pflege folgend wird hierbei nicht primär am Kind, sondern gemeinsam mit dem Kind gehandelt. Das bedeutet etwa, dass Pflegehandlungen nicht einfach vorgenommen, sondern kommentiert und im Tempo an das Kind angepasst werden. Die Kommentierung erfolgt dabei auch dann, wenn das Kind sie aufgrund des Standes der Sprachentwicklung noch nicht verstehen kann – sehr wohl verstehen kann es nämlich Tonlage und Aufmerksamkeit, die Wertschätzung transportieren. Ferner bietet die beziehungsvolle Pflege den Raum für individuelle Bedürfnisse des Kindes: Möchte es die Reihenfolge etwa des Anziehens verändern, so sollte darauf eingegangen werden. Auch das Interesse des Kindes an während der Pflege verwendeten Gegenständen sollte Pikler folgend nicht ignoriert oder unterbunden werden.
Hinzu kommt eine weitere Komponente, die im Rahmen der Pikler-Pädagogik als bindungsfördernd verstanden wird: Wesentliche Aspekte der Interaktion mit dem Kind sind den Erzieher*innen vorgegeben. So soll ein sicherer Rahmen mit für das Kind überschaubaren Erwartungen geschaffen werden. Die starke Formalisierung der Interaktion zielt dabei auch darauf, die im Rahmen der Heimbetreuung häufigen Wechsel der Erzieher*innen zumindest im Ansatz zu kompensieren und Stabilität zu gewährleisten.
Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass Pikler die Pflege des Kindes nicht als zu erfüllende Pflichtaufgabe an einem Objekt, sondern als Beziehungsaufgabe mit zwei – trotz des Hierarchiegefälles – in der Gestaltung der Situation so weit wie möglich gleichberechtigten Parteien verstanden hat. Hier zeigt sich einmal mehr, dass der Ansatz der Pikler-Pädagogik nur aus seinem historischen Entstehungskontext heraus in seiner Tragweite verständlich wird. So erscheinen die Aussagen zur direkten Arbeit mit dem Kind aus der Warte heutiger pädagogischer Ansätze völlig selbstverständlich und der starke Formalismus überholt. Vor dem Hintergrund der Heimbetreuung von Kleinkindern während der 1930er- und 1940er-Jahre hingegen, die vor allem auf die Stillung der basalen physischen Bedürfnisse zielte, erscheint der Ansatz durchaus progressiv.
Fazit: Pikler-Pädagogik als geschichtliche Erscheinung?
Insgesamt zeigt sich, dass der Ansatz der Pikler-Pädagogik mit vielen gängigen pädagogischen Vorstellungen insbesondere seiner Entstehungszeit bricht. In seiner Genese muss er entsprechend als historisch begriffen werden: Erst das spezifische historische Erziehungs- und Pflegeverständnis hat mit seinen Defiziten den Raum für die Entwicklung des alternativen Ansatzes eröffnet. Das bedeutet gleichwohl nicht, die Pikler-Pädagogik insgesamt als historische Erscheinung verstehen zu müssen. Wie Andrea von Gosen und Nina Wettich klarstellen, sind bestimmte Aspekte des Ansatzes auch in der heutigen kleinkindpädagogischen Arbeit und vor dem Hintergrund heutiger Theoriebildung wie empirischer Erkenntnisse durchaus sinnvoll einsetzbar. Das gilt – so von Gosen und Wettich – insbesondere für die in der beziehungsvollen Pflege geforderte beständige Kommunikation mit dem Kind, da diese die Sprachentwicklung insofern fördern kann, als damit „die gesprochenen Worte in direkten Zusammenhang mit den [jeweils währenddessen ausgeführten] Handlungen“ (von Gosen/Wettich, 2009; S. 14) gebracht werden. Verwiesen werden muss bezüglich der Aktualität des Pikler-Ansatzes ferner auf das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit der Erziehung, die die Autonomie des Kindes anerkennt und keine spezifische Entwicklung forciert.
Quellen:
Gutknecht, Dorothee; Bader, Christine (2021): „Die Säuglings- und Kleinkindpädagogik nach Emmi Pikler“. In: Aspekte U3 – Studientexte Netzwerk QuiKK. 2/2021. Online verfügbar unter: https://www.eh-freiburg.de/wp-content/uploads/2021/09/Gutknecht-Bader-Pikler-Ansatz-Fruehpaedagogik.pdf [29.04.22].
Gosen, Andrea von; Wettich, Nina (2009): „Jedes Kind hat sein eigenes Zeitmaß. Zur Kleinkindpädagogik Emmi Piklers“. In: Kindergarten heute. 5/2009. S. 8-14. Online verfügbar unter: http://www.pikler-spielraum.de/documents/kindergarten_heute__05_09_s%2008_14.pdf [29.04.22].