Stress und Gedächtnis

Stress und Gedächtnis

Dass Stress Auswirkungen auf das physische und psychische Befinden hat, wissen die meisten Menschen aus erster Hand. Weniger bekannt als etwa die Auswirkungen auf den Schlaf, den Blutdruck oder das allgemeine Wohlbefinden sind die Auswirkungen auf das Gedächtnis. Doch wie genau beeinflusst Stress unsere Erinnerung?

Glukokortikoide und Gedächtnisprobleme

Lange bekannt ist, dass synthetische Glukokortikoide, die zur Behandlung bestimmter Erkrankungen eingesetzt werden, das Gedächtnis beeinträchtigen können – zumindest dann, wenn sie in hohen Dosen verabreicht werden. Das ist vor allem bei Autoimmunerkrankungen, aber auch bei chronisch-entzündlichen Prozessen teilweise der Fall.

Die künstlichen Glukokortikoide sind dabei einem körpereigenen Hormon, dem Cortisol, nachempfunden. Dieses wiederum wird im Rahmen der Stressreaktion ausgeschüttet: Sind wir mit Stressoren konfrontiert, steigt nicht nur die Abgabe von Adrenalin und Noradrenalin, sondern auch die von Cortisol in den Körper. Dementsprechend ist dieses Hormon als auch Stresshormon bekannt.

Stress schwächt das Gedächtnis: Cortisol-Studie von John Newcomer

In einer im Jahr 1999 publizierten Studie untersuchten Wissenschaftler*innen um John Newcomer, ob diese Effekte auch bei der natürlichen Form des Hormons auftreten. Hierzu teilten sie Proband*innen in drei Gruppen ein: Eine Gruppe erhielt zweimal täglich 160 mg Cortisol, eine zweimal täglich 40 mg und eine ein Placebo. Die Gabe erfolgte über vier Tage hinweg. Während dieser Zeit sowie im Anschluss daran wurde das Erinnerungsvermögen über mehrere Tage hinweg mit Hilfe einer Textlektüre überprüft: Die Proband*innen mussten Texte lesen, die rund 90 Informationen enthielten, und wurden anschließend täglich zu diesen Informationen befragt.

Während am ersten Tag nach der Lektüre noch keine statistisch signifikanten Unterschiede im Erinnerungsvermögen auftraten, schnitten die Proband*innen, die die größte Menge Cortisol erhielten, am vierten Tag bedeutend schlechter ab als die Angehörigen der beiden anderen Gruppen: 93 Prozent aus dieser Gruppe erinnerten ca. 20 Informationen weniger als die Teilnehmenden aus den anderen Gruppen. Eine Woche nach der Verabreichung des Cortisols hatten die Ergebnisse sich wieder an die der anderen Gruppen angeglichen. Die Beeinflussung scheint daher nur vorübergehend zu sein – was bei chronischem Stress mit dauerhaft erhöhten Cortisolspiegeln jedoch nicht der Fall wäre.

Stress verändert die Hirnstruktur

Zeigen lässt sich der Einfluss des Stresshormons Cortisol auf das Gedächtnis auch anhand typischer Veränderungen des Gehirns. So zeigte sich in Studien, dass bei Menschen mit hohem Cortisolspiegel im mittleren Lebensalter ein unterdurchschnittliches Hirnvolumen vorlag. Eine klare Kausalität kann damit jedoch nicht belegt werden: Es ist theoretisch auch denkbar, dass nicht das Cortisol das Hirn schrumpfen lässt, sondern aufgrund der Hirnschrumpfung besonders viel Cortisol ausgeschüttet wird.

Gezeigt werden konnte ferner, dass sich der Hippocampus, der präfrontale Cortex und die Amygdala bei dauerhafter Belastung verändern. Die Amygdala, die vor allem für die Entstehung von Angstgefühlen zuständig ist, wird größer, während der Hippocampus und der präfrontale Cortex schrumpfen. Diese beiden Hirnregionen regulieren Emotionen (Hippocampus) und sind für die Handlungsplanung (präfrontaler Cortex) zuständig. Der Hippocampus steuert ferner den Übergang von Inhalten aus dem Kurz- ins Langzeitgedächtnis.

Durch die stressbedingten Veränderungen entsteht hier leicht ein Teufelskreis: Verändern die Areale sich, nimmt die Stressbewältigungskompetenz ab, was chronischen Stress befeuert, der weitere Veränderungen der Areale induziert usw.

Interessant ist dabei, dass auch vorgeburtliche Belastungen die beschriebenen Auswirkungen haben können. In einem Tierversuch wurden schwangere Ratten in zwei Gruppen eingeteilt; die Versuchsgruppe wurde in der letzten Woche der Schwangerschaft Belastungen durch Licht ausgesetzt, während die Kontrollgruppe nicht speziell behandelt wurde. Nach der Entbindung zeigte sich bei den Neugeborenen ein höheres Gewicht der Nebennierenrinden, in denen Cortisol produziert wird. Später zeigte sich außerdem, dass die Entstehung neuer Zellen im Hippocampus bei den Nachkommen der Versuchsgruppe stärker abnahm als bei denen der Kontrollgruppe. Außerdem zeigten sie bei einem Test ihrer kognitiven Fähigkeiten – sie mussten eine versteckte Plattform finden – schlechtere Ergebnisse.

Stress stärkt die Erinnerung an emotionale Ereignisse

Doch Stress führt nicht ausschließlich dazu, dass unsere Gedächtnisfunktionen sich verschlechtern. In einem speziellen Bereich verbessert er sie sogar: Wer höhere Stresshormonspiegel aufweist, kann sich signifikant besser an emotionale Inhalte erinnern. Ferner stärkt ein hoher Stresshormonspiegel die Stabilisierung abgerufener Erinnerungen (sog. Rekonsolidierung). Zurückgeführt werden kann das auf die Veränderungen die Amygdala. Positiv zu bewerten ist das jedoch nicht unbedingt: Ein in diesem Bereich erhöhtes Erinnerungsvermögen lässt uns auch furchteinflößende Ereignisse und ähnliche belastende Inhalte besser erinnern. Oliver Wolf sieht in der verbesserten Rekonsolidierung ferner einen möglichen Grund für die im Rahmen von Posttraumatischen Belastungsstörungen und Angststörungen beständig präsenten unerwünschten Erinnerungen: Die erinnerten Inhalte sind mit negativen Gefühlen verbunden, sodass es beim Abruf zur Ausschüttung von Stresshormonen kommt, was wiederum dafür sorgt, dass die Inhalte sich verfestigen.

Fazit: Stress und Gedächtnis

Festhalten lässt sich damit, dass Stress einen großen Einfluss auf unser Gedächtnis hat. Hohe Spiegel an Stresshormonen sorgen dafür, dass wir Gedächtnisinhalte schlechter abrufen können und wirken sich in einer Weise, die das Gedächtnis beeinträchtigt, auf die Hirnstruktur aus. Gleichzeitig wirkt die Erinnerung an emotionale Ereignisse gestärkt – was etwa Angststörungen oder Posttraumatische Belastungsstörungen negativ beeinflussen kann.

Quellen:
Drexler, Shira Meir; Hamacher-Dang, Tanja C.; Merz, Christian J.; Tegenthoff, Martin; Wolf, Oliver T. (2015): “Effects of Cortisol on Reconsolidation of Reactivated Fear Memories”. In: Neuropsychopharmacology. 40(13). S. 3036-3043.
Müller, Thomas (2018): „Viel Stress lässt womöglich Hirn schrumpfen“. In: Ärztezeitung. Online verfügbar unter: https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Viel-Stress-laesst-womoeglich-Hirn-schrumpfen-227364.html [02.05.22].
Newcomer, John W. et al. (1999): “Decreased Memory Performance in Healthy Humans Induced by Stress-Level Cortisol Treatment”. In: Archives of General Psychiatry. Vol. 56. No. 6. S. 527-533.
Weiler, Julia (2015): Wie Cortisol furchteinflößende Erinnerungen aufrecht erhält. Bochum. Online verfügbar unter: https://www.magazin-auswege.de/data/2015/07/PM_RUB_Wie_Cortisol_furchteinfloessende_Erinnerungen_aufrechterhaelt_2015-07-01.pdf [02.05.22].
Wolf, Christian (2009): „Dauernd unter Strom“. In: spektrum.de. Online verfügbar unter: https://www.spektrum.de/news/dauernd-unter-strom/996220 [02.05.22].
Wolf, Oliver T. (o.J.): Wie Stress unser Gedächtnis beeinflusst. Neueste Einsichten der Stressforschung. Bochum. Online verfügbar unter: http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/mam/notfallseelsorge/downloads/wolf_stress.pdf [02.05.22].
o.V. (1999): „Streß legt das Gedächtnis lahm“. In: spektrum.de. Online verfügbar unter: https://www.spektrum.de/news/stress-legt-das-gedaechtnis-lahm/342740 [02.05.22].