Die Seele als „Effekt und Instrument einer politischen Anatomie“ (Foucault, 2019; S. 42) oder als „Gefängnis des Körpers“ (Foucault, 2019; S. 42) zu verstehen, ist mit christlichen Vorstellungen kaum vereinbar. Insbesondere das von Michel Foucault formulierte Körper-Seele-Verhältnis steht demjenigen des Christentums diametral gegenüber. Während die Seele in christlichen Vorstellungen den unsterblichen Part des Menschen darstellt, der mit dem Tod den sterblichen Leib verlässt, dem er „am Tag der Auferstehung“ (Paul VI., 1968) gewissermaßen sein Leben erst wieder einhaucht, steht bei Foucault der Körper an erster Stelle. Dieser erscheint bei ihm als das Eigentliche des Menschen, das durch die Seele begrenzt und behindert wird. Zurückzuführen sind diese Diskrepanzen darauf, dass Foucault den Begriff der Seele umdeutet. In seinem Werk ist darunter kein ideelles Prinzip zu verstehen, sondern das Produkt von auf Menschen ausgeübter Herrschaft. Doch was bedeutet das konkret und welches neue Verständnis eröffnet Foucaults Konzept der Seele für Gesellschaftspolitik, Pädagogik und Religionsverständnis?
Das Dispositiv der Disziplinarmacht
Foucaults Ausführungen zur Seele finden sich zu Beginn der Studie Überwachen und Strafen, die sich mit der Entwicklung der Disziplinarmechanismen und -institutionen befasst. Sie muss damit gelesen werden im Kontext des Dispositivs der Disziplinarmacht. Als Dispositive versteht Foucault historisch sich verändernde Strukturen aus Diskursen und gesellschaftlicher Praxis. Die Disziplinarmacht ist gekennzeichnet durch ein Verständnis der Formbarkeit der Körper bzw. Individuen sowie durch eine ökonomische Effizienzorientierung. Was das konkret bedeutet, erläutert Foucault unter anderem am Beispiel des Militärs: „In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Soldat etwas geworden, was man fabriziert. Aus einem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, deren man bedarf“ (Foucault, 2019; S. 173). Die Institutionen der Disziplinarmacht produzieren Subjekte, indem sie Individuen bzw. Körper aufnehmen und derart transformieren, dass sie im Sinne der herrschenden politischen Ökonomie nützlich werden. Subjekt zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang, in eine präformierte Rolle gefügt worden zu sein. Individuen hingegen sind das Ausgangsmaterial dieser Transformationsprozesse, die insgesamt als Prozesse der Subjektivierung zu verstehen sind.
In Überwachen und Strafen widmet Foucault sich zahlreichen Institutionen, in denen eine Subjektivierung im Sinne der Disziplinarmacht vonstattengeht. Ein weiteres prominentes Beispiel stellt die Schule dar. Hier wird deutlich, dass die Transformation der Körper sich nicht ausschließlich oder auch nur primär durch Gewalteinwirkung vollzieht. Stattdessen stehen hier architektonische und organisatorische Konfigurationen im Vordergrund: Die beständige Sichtbarkeit der Schüler*innen durch den Aufbau des Klassenzimmers, die beständige Überprüfung ihrer Fähigkeiten in Tests und Klausuren, aber auch die Einteilung der Schüler*innen durch Sitzordnung, Leistungsgruppen und Co trägt zur Verhaltensmodifikation und damit letztlich zur Transformation bei.
Die Seele als „Effekt und Instrument einer politischen Anatomie“
Der Begriff der „politischen Anatomie“ (Foucault, 2019; S. 42), der für das Verständnis des Konzepts der Seele bei Foucault zentral ist, lässt sich vor dem Hintergrund des beschriebenen Dispositivs der Disziplinarmacht leicht erschließen: Im Vordergrund der Untersuchung Foucaults steht eine „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault, 2019; S. 41). In diesem Sinne ist unter der „politischen Anatomie“ (Foucault, 2019; S. 42) die Untersuchung, Kategorisierung und letztlich Bearbeitung der Körper vor dem Hintergrund einer spezifischen politischen Ökonomie zu verstehen. Ist die Seele Effekt dieser Verhältnisse, so ist sie anders als im Christentum kein qua Geburt gegebenes Faktum. Sie wird vielmehr in der Einwirkung auf den Körper erst erzeugt: „Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert […] durch Machtausübung an jenen, die man bestraft und in einem allgemeineren Sinn an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert“ (Foucault, 2019; S. 41). Die Seele ist das Resultat einer Unterwerfung des Menschen, die ein gewünschtes Verhalten hervorbringen soll.
Zugleich ist die Seele Instrument dieser politischen Anatomie. Sie ist also kein beiläufiges Produkt der disziplinierenden Unterwerfung, sondern gewünschter Effekt, der in der Folge zur Ausbeutung der Kräfte des Körpers beiträgt. Foucault sieht in der Seele den Grund der Unterwerfung: „Der Mensch […] ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt“ (Foucault, 2019; S. 42). Anders formuliert: Die Seele ist bei Foucault die Metapher für die psychischen Effekte der Disziplinierung. Sie bezeichnet die Lerneffekte, die den unterworfenen Menschen dazu bringen, das von ihm geforderte Verhalten an den Tag zu legen. Pädagogische und medizinische Interventionen, die Foucault als „Technologie[n] der ‚Seele‘“ (Foucault, 2019; S. 43) bezeichnet, sind daher eines der Instrumente der „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault, 2019; S. 41).
Die Seele als „Gefängnis des Körpers“
Vor dieser Folie lässt die Seele sich leicht als „Gefängnis des Körpers“ (Foucault, 2019; S. 42) begreifen. Der Körper bzw. das körperliche Individuum wird bei Foucault als handlungsfähig verstanden, während die Disziplinierung einen äußeren Zugriff darstellt. Der Prozess der subjektivierenden Disziplinierung ist damit ein solcher der Festlegung der Handlungsmöglichkeiten auf einen ökonomisch erwünschten Bereich, der nicht vom Individuum selbst gewählt ist. Ist die Seele durch diesen Prozess „in das Individuum selbst eingepflanzt“ (Grabau, 2013; S. 42), so wirkt sie als forcierte Internalisierung äußerer Ziele im Menschen selbst und legt ihn auf diese fest. Als eine Art eingepflanzte Steuereinheit beschränkt sie damit gleichsam aus dem Innen heraus die ursprünglich unbegrenzten Möglichkeiten des Körpers. In diesem Sinne ist sie sein Gefängnis. Das bedeutet nach Foucault jedoch nicht den Verlust jeder Widerstandsmöglichkeit.
Foucaults Konzept der Seele – Konsequenzen für die Pädagogik
Foucaults Konzept der Seele ist – das legen die bisherigen Beschreibungen nahe – für das Verständnis von Erziehungs- und Bildungsprozessen von Bedeutung. Als forcierte Transformationsprozesse sind die in Überwachen und Strafen nachgezeichneten Interventionen der Disziplinarmacht in Institutionen wie der Schule, der Militärakademie, der Fabrik oder dem Gefängnis eindeutig als Formen von Erziehung zu verstehen: Sie entfalten sich in einem hierarchischen Verhältnis, verfolgen das Ziel der Veränderung ihrer Objekte hin auf einen von den Einwirkenden als positiv bewerteten Zustand und verändern – auch das fasst Foucault mit dem Begriff der Seele – „das Gefüge der psychischen Dispositionen“ (Brezinka, 1990; S. 95) ebendieser. Die Pädagogik als Praxis ist damit auf den grundsätzlich repressiven Charakter ihres Tuns verwiesen. Foucaults Analyse pädagogischer Praxis fehlt das traditionell an den Tag gelegte Pathos, das erzieherische Eingriffe vor dem Hintergrund höherer Ziele als gerechtfertigt oder gar notwendig versteht. Die Analyse der Disziplinarmacht kann damit zurecht als Kritik an repressiver Unterwerfungspraxis und den ebendieser dienenden Institutionen bzw. Strukturen verstanden werden.
Gleichwohl müssen auch die produktiven Aspekte, die mit der Erschaffung der Seele, mit der subjektivierenden Unterwerfung der Individuen, einhergehen, beachtet werden. So greift es deutlich zu kurz, Foucault bloß als Kritiker der Repression zu lesen. Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive rückt daneben die Entstehung des Subjekts durch die Praxis der Disziplinierung in den Fokus der Betrachtung. Mit der Unterwerfung einher geht – das führt Foucault nicht in Überwachen und Strafen, jedoch in anderen Werken aus, stärker noch jedoch nachfolgende poststrukturalistische Theoretiker*innen – ein Moment der Anerkennung und Orientierung, das ohne die Einwirkung auf das Individuum fehlen würde. Hinzu tritt ein weiteres Paradox, das sich auf die Disziplinarinstitution Schule bezieht: Kritik auch an anderen Disziplinarinstitutionen ist erst aufgrund der in der Schule erfolgten Disziplinierung, die den Grundstein organisierten Wissens und elaborierter Reflexionsfähigkeit bildet, möglich.
Verwiesen ist damit letztlich auf das grundsätzliche Spannungsfeld von Autonomie respektive emanzipatorischer Orientierung und Repression im pädagogischen Kontext. Mit Foucault erhält dieses jedoch eine andere Nuancierung und stärkere Differenzierung als etwa bei Kant und anderen Vordenker*innen der Erziehungswissenschaft, die primär die Unumgehbarkeit entsprechender Interventionen ins Blickfeld rücken. Foucault lässt sich damit als zentrale Referenzfigur einer Kritischen Erziehungswissenschaft verstehen.
Die Seele als „Effekt und Instrument“ und die Religion
Interessant sind darüber hinaus die Konsequenzen des Foucaultschen Seelenbegriffs bzw. -konzepts für das Verständnis von Religion. So kann der Begriff der Seele vor dem Hintergrund der weiteren religionsbezogenen Ausführungen Foucaults, insbesondere bezüglich der Pastoralmacht, keineswegs als zufällig gewählt verstanden werden. Er erlaubt mit seiner spezifischen Stoßrichtung und seiner Einbettung in die Analyse der Disziplinarmacht sowie der Disziplinarinstitutionen vielmehr eine Reformulierung von Religion, die – zumindest in ihrer institutionalisierten Form – als Macht- und Herrschaftsinstrument verstehbar wird.
Fazit: Foucaults Konzept der Seele
Foucaults Konzept der Seele kann damit insgesamt als aufschlussreiche Metapher verstanden werden, die einen ersten Zugang zu seiner Analyse der Disziplinarmacht wie der damit verbundenen Subjektivierungsformen erlaubt. Insbesondere hinsichtlich pädagogischer und institutionell-religiöser Kontexte ist die Wahl der Metapher dabei von besonderer Bedeutung und eröffnet kritische Perspektiven.
Quellen:
Brezinka, Wolfgang (1990): Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. 5., verbesserte Auflage. München.
Foucault, Michel (2019): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main. [orig. 1975].
Grabau, Christian (2013): Leben machen. Pädagogik und Biomacht. München.
Paul VI. (1968): Das „Credo“ des Gottesvolkes. Gesprochen durch den Heiligen Vater Paul VI. zum Abschluss des Glaubensjahres. Online verfügbar unter: https://www.vatican.va/content/paul-vi/de/motu_proprio/documents/hf_p-vi_motu-proprio_19680630_credo.html [13.04.23].