Immanuel Kant: Über Pädagogik

Kant. Über Pädagogik.

Immanuel Kant gilt als eine der bekanntesten Gestalten der Philosophiegeschichte, was nicht nur seine bis heute sehr breite Rezeption, sondern auch popkulturelle Bezugnahmen, Kant-Kochbücher oder ein Philosophie-Quiz, das sich mit Kant befasst, belegen. Doch nicht nur für die Philosophie ist Kants Denken und Schreiben von Bedeutung gewesen, sondern auch für die Pädagogik. In seinen Vorlesungen zu pädagogischen Themen, die von Friedrich Theodor Rink unter dem Titel Über Pädagogik in von ihm strukturierter Form herausgegeben worden, befasst Kant sich ausführlich nicht nur mit der pädagogischen Theoriebildung seiner Zeit, sondern auch systematisch mit Grundfragen der Erziehung. Über Pädagogik ist dabei unterteilt in einen Abschnitt, der sich mit der physischen Erziehung, und einen solchen, der sich mit der praktischen Erziehung befasst. Vor allem der letztgenannte Teil ist für weitere pädagogische Theoriebildungen einflussreich gewesen und soll im vorliegenden Artikel näher betrachtet werden.

Bildsamkeit und Notwendigkeit von Erziehung

Kant beginnt seine Ausführungen über Pädagogik und Erziehung mit der Setzung anthropologischer Prämissen. So führt er aus, dass er den Menschen als kategorial von anderen Tieren getrennt versteht: Der Mensch ist anders als das Tier nicht instinktgeleitet, sondern mit einem Verstand ausgestattet, der es ihm erlaubt, sich selbst Ziele zu setzen und sein Verhalten zu planen. Gleichzeitig führt Kant jedoch an, dass es dafür der Erziehung bedürfe: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“ (S. 697) und „kann nur Mensch werden durch Erziehung“ (S. 699).

Damit liegt eine deutliche Parallele zu Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache vor, in der der Mensch ebenfalls als Mängelwesen verstanden wird, das aufgrund seiner Instinktfreiheit auf seinen Verstand setzen muss. Während die Sprache sich bei Herder jedoch zwangsläufig entwickelt, ist der Verstand und die Fähigkeit zur Selbststeuerung bei Kant das Resultat pädagogischer Prozesse. Anders formuliert: Ohne Erziehung ist der Mensch zu leben nicht in der Lage, da er nicht durch Instinkte geleitet ist und sich ohne Anleitung nicht selbst steuern kann.

Doch die Konsequenzen der grundlegenden anthropologischen Annahme Kants sind damit nicht ausgeschöpft. So verweist Kant in diesem Zusammenhang ferner darauf, dass die Freiheit von Instinkten das Fehlen eines natürlichen Ziels bedeutet. Der Mensch ist zunächst unbestimmt und damit frei. Das wiederum bedeutet, dass er gezwungen ist, selbst zu entscheiden, wer oder was er sein möchte – und sich entsprechend selbst entwerfen muss. Hierin besteht im Übrigen bei aller sonstigen Differenz eine Nähe zum Denken Jean-Paul Sartres. Möglich ist der Selbstentwurf bei Kant aufgrund einer technischen, einer pragmatischen und einer moralischen Anlage: Der Mensch ist Kant zufolge von Natur aus ausgestattet mit allem, was er benötigt, um sich selbst zu formen. Insgesamt bedeuten die teleologische Unbestimmtheit des Menschen und die prinzipielle Möglichkeit einer Selbst-Bestimmung Bildsamkeit. Die Notwendigkeit von Erziehung und die Bildsamkeit, die beide aus der Instinktfreiheit des Menschen folgen, sind die zentralen Bezugsgrößen der weiteren Ausführungen Kants zur Pädagogik.

Das Ziel der Erziehung nach Kant

Das Ziel von Erziehung ist damit bereits grob umrissen: Sie soll es dem Menschen ermöglichen, über sich selbst zu bestimmen, sich Ziele zu setzen und sein Verhalten entsprechend zu steuern. Dabei belässt Kant es jedoch nicht. Er führt vielmehr weiter aus, dass die Pädagogik nur Wissenschaftlichkeit beanspruchen könne, wenn sie ihre Praxis an theoretisch-normativen Grundsätzen orientiere. Einen solchen Grundsatz liefert Kant sodann: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglichen bessern Zustand des menschlichen Geschlechts […] angemessen, erzogen werden“ (S. 704). Hier wird deutlich, dass Kants pädagogisches Denken sich letztlich weniger auf das Individuum als vielmehr auf den Menschen als Gattungswesen bezieht. Die Möglichkeit, sich selbst Ziele setzen und sich entsprechend zu verhalten, wird von Kant direkt bezogen auf die Menschheit als Ganzes. Die Erziehung ist damit instrumentell hinsichtlich übergeordneter Ziele, die außerhalb der Einzelperson liegen und nicht von dieser selbst bestimmt werden. In diesem Sinne hat Erziehung nach Kant nicht nur einen ermöglichenden, sondern auch und vor allem einen begrenzenden Charakter: Sie soll es dem zu erziehenden Individuum zwar ermöglichen, sich selbst Ziele zu setzen; diese Ziele jedoch sollen im Einklang mit einer außerhalb des Individuums angesiedelten moralischen Agenda sein. Wie genau sich das mit Kants Freiheitsorientierung verbinden lässt, soll im Abschnitt zur Moralisierung genauer erörtert werden.

Vier Stufen des Erziehungsprozesses

Wie genau diese Richtung aussieht und welche Form von Erziehung Kant dafür für angemessen hält, beschreibt er detailliert. Der Erziehungsprozess ist in vier Stufen gegliedert, die aufeinander aufbauen: Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. Am Ende dieses Prozesses steht ein Individuum, das sich selbst Ziele, die einer moralischen Prüfung standhalten, setzen und diese verfolgen kann.

Disziplinierung

Der erste Schritt der Erziehung besteht in der Beschränkung der Freiheit. Dem Kind wird beigebracht, sich an vorgegebene Regeln zu halten und sein eigenes Wollen diesen Regeln unterzuordnen. Nach Kant ist diese Disziplinierung notwendig, da sie die Grundlage einer überlegten Selbstbestimmung schafft, die nicht von bloßen Launen abhängig ist. Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Orientierung an Freiheit und Selbstbestimmung bei Kant nicht primär individuenbezogen zu denken ist: Um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen, muss die Freiheit des*der Einzelnen beschnitten werden – was belegt, dass die reine individuelle Selbstbestimmung nicht das Ziel des Erziehungsprozesses darstellt.

Kultivierung

In einem zweiten Schritt, den Kant als Kultivierung bezeichnet, erfolgt Unterricht, der das Kind mit Wissen und Fähigkeiten ausstattet. Diese sind nötig, um sich informiert in der Welt bewegen zu können. Ein solcher Unterricht ist nur möglich, wenn das Kind in der Lage ist, seinen eigenen Willen vorübergehend zurückzustellen – weshalb die Kultivierung erst nach erfolgter Disziplinierung erfolgen kann.

Zivilisierung

Der dritte Schritt des Erziehungsprozesses zielt auf soziale Aspekte. Der Mensch soll nicht nur mit Wissen und Fertigkeiten ausgestattet werden, sondern auch in der Lage sein, in die Gesellschaft, in der er aufwächst, zu passen. Hierzu muss ihm soziales Taktgefühl vermittelt werden.

Moralisierung

Abgeschlossen wird die Erziehung durch die vierte und wichtigste Stufe: die Moralisierung. Erst hier geht es darum, das Kind zu befähigen, sich selbst Maximen zu setzen, nach denen es handeln möchte. In der Thematisierung dieses Ziels wird einmal mehr deutlich, dass Kant eine Formung der Menschen entlang vorgegebener normativer Achsen vorschwebt. So sind es nicht beliebige Maximen, die er sich setzen soll. Vielmehr muss der Mensch „die Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zweck sein können“ (S. 707).

Konkret bedeutet das, dass der Mensch durch die Erziehung eindeutig beschränkt werden soll auf eine Selbstbestimmung, die sich im Rahmen vorgegebener Werte bewegt. Die Definition guter Zwecke als solcher, „die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden“ (S. 707) lässt dabei zwar einigen Interpretationsspielraum, deutet jedoch eindeutig auf eine Konformitätsorientierung. Pädagogik ist damit notwendig politisch, was Kant nicht explizit ausformuliert.

Gleichwohl unterscheidet Kants Verständnis von Erziehung und Pädagogik sich deutlich von repressiven Erziehungskonzepten. Obwohl eine deutliche normative Orientierung vorgegeben ist, die den Menschen auf ganz bestimmte Ziele festlegen soll, betont Kant immer wieder das grundlegende Moment der Freiheit. Begründet ist das wiederum durch eine anthropologische Prämisse: Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet, die es ihm – wenn sie frei tätig wird – erlaubt, selbst zu erkennen, dass nur bestimmte Ziele gut sind. Eine schlichte Unterwerfung ist damit nicht notwendig, da die durch die Erziehung erreichte Befähigung zum Denken Kant zufolge notwendigerweise dazu führt, eine entsprechende Einsicht zu entwickeln.

Eine solche Perspektive ist jedoch wiederum problematisch, da sie einen moralischen Diskurs letztlich verhindert. Wer nicht den von Kant als gut verstandenen Zielen folgt und die entsprechende moralische Orientierung nicht teilt, muss vor dem Hintergrund der Kantischen Erziehungstheorie als defizitär verstanden werden. Kritik ist damit grundsätzlich delegitimiert.

Das Paradox von Freiheit und Zwang bei Kant

Das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit wird jedoch nicht nur bezüglich der Zielsetzung der Erziehung sowie bezüglich der individuellen Setzung von Handlungszielen thematisiert. So verweist Kant prominent selbst darauf, dass Erziehung, die zu Freiheit befähigen soll, immer in einem Paradox gefangen ist: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen“ (S. 711). Diese Grundantinomie lässt sich auch auf andere pädagogische Theorien, die Freiheit, Selbstbestimmung oder Selbstständigkeit als Erziehungsziel formulieren.

Kant selbst möchte die Antinomie lösen, indem er Zwang nur dann als gerechtfertigt erklärt, wenn er nachweislich der zukünftigen Freiheit der zu Erziehenden dient. Dass eine solche Auflösung scheitern muss, liegt dabei auf der Hand, da sie den repressiven Charakter der Erziehung und die grundsätzliche Fremdbestimmung ihrer Ziele wie Methoden nicht behebt. Die Willkürlichkeit des Zwangs wird so zwar begrenzt, er bleibt als mit Freiheitsorientierung unvereinbares Faktum jedoch bestehen.

Fazit: Kant und die Erziehung

Abschließend lässt sich festhalten, dass Kants Erziehungstheorie nicht nur ein spezifisches Menschenbild vermittelt, sondern darüber hinaus normative Prämissen einer jeden pädagogischen Praxis formuliert sowie einen konkreten Handlungsplan für Erziehung entwirft. Kants Erziehungstheorie war und ist bis heute einflussreich. Gleichwohl ist sie jedoch mit zahlreichen Problemen behaftet, die im Kern auf die Unvereinbarkeit von Zwang und Freiheit, die in Kants Erziehungskonzept beide eine zentrale Rolle einnehmen, verweisen. Als Grundantinomie ist die Unvereinbarkeit von Freiheit und Zwang, die Ziel bzw. Mittel der Pädagogik sind, sowohl für die erziehungswissenschaftliche Reflexion als auch für die pädagogische Praxis bis heute von Bedeutung.

Alle Zitate aus:
Kant, Immanuel (1983): „Über Pädagogik“. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Band 10. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt. S. 691-764.