Die Systemische Therapie wird in Deutschland seit einigen Jahren von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannt und erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Doch welche Theorie steht hinter dem Systemischen Ansatz? Gibt es die eine systemische Theorie oder ist vielmehr eine Theoriepluralität zu finden, die die Therapie beeinflusst? Diesen Fragen ist der vorliegende Artikel gewidmet. Hierzu soll zunächst Niklas Luhmanns Systemtheorie abrisshaft vorgestellt werden, ehe der narrative Ansatz hinsichtlich seiner theoretischen Implikationen untersucht wird. Abschließend steht die Frage, inwieweit die Praxis der Systemischen Therapie tatsächlich von den theoretischen Hintergründen, vor denen sie entwickelt wurde, beeinflusst ist.
Luhmanns Systemtheorie: Systeme statt Subjekte
Wichtigster Hintergrund der Systemischen Therapie ist Niklas Luhmanns Systemtheorie. Bei dieser handelt es sich um eine Theorie mit Allgemeingültigkeitsanspruch: Sie will die Funktionsweise und Struktur jeder gesellschaftlichen Beziehung erschöpfend beschreiben können – und lässt insofern keinen Raum für komplementäre Ansätze. Wichtigster Punkt der Systemtheorie ist die Annahme, dass die Gesellschaft ein großes System ist, das sich aus vielen einzelnen Systemen zusammensetzt, die wiederum aus verschiedenen Systemen zusammengesetzt sind usw. In einer solchen Perspektive verschwindet der Begriff des Subjekts bzw. des Individuums aus der Theorie: Menschen sind im systemtheoretischen Denken keine autonomen Individuen, sondern zum einen zusammengesetzt aus unterschiedlichen Systemen (etwa einem biologischen und einem psychischen) und zum anderen Teil weiterer Systeme, etwa des Systems Familie, des Systems Freund*innenkreis usw.
Eine solche Auffassung wirft viele Fragen auf: Was genau ist ein System? Wie entsteht es? In welchem Verhältnis stehen Systeme zueinander? Was ist nun mit dem Menschen in den Systemen? Die drei grundlegenden Paradigmen der Systemtheorie geben Aufschluss.
Systeme sind emergent
Systeme sind emergent. Das bedeutet, dass ein System als ganzes Eigenschaften aufweist, die nicht aus einem seiner Einzelteile stammen, sondern erst im Zusammenspiel der Einzelteile entstehen. Luhmann setzt sich damit von der traditionellen Auffassung der Wechselbeziehung von Ganzem und Einzelteilen ab. Verdeutlichen lässt sich das etwa am Beispiel des Systems Fangruppe: In einem beliebigen Stadion entwickelt dieses System ein enormes Selbstsicherheitsgefühl und eine enorme Gewaltbereitschaft, die nicht durch bloße Addition der Selbstsicherheitsgefühle sowie der Gewaltbereitschaft der Einzelteile des Systems erklärt werden kann.
Systeme sind umweltoffen, aber von der Umwelt abgegrenzt
Luhmann nimmt an, dass Systeme einerseits klar von ihrer Umwelt verschieden sind, andererseits jedoch Beziehungen zu dieser Umwelt unterhalten. Die Beziehung zur Umwelt ist dabei als Input-Output-Beziehung zu denken. Ein System nimmt also Informationen aus seiner Umwelt auf, verarbeitete sie und stößt Informationen aus.
Systeme sind selbstreferentiell und autopoietisch
Systeme bringen sich selbst hervor und sind in ihren Operationen immer auf sich selbst bezogen. Auf diese Weise erhalten sie sich selbst und differenzieren sich aus. Den Prozess der Selbsthervorbringung bezeichnet Luhmann als Autopoiesis (wörtlich: autos = selbst, poiein = schaffen, bauen), die operative Selbstbezogenheit als Selbstreferentialität. Zustande kommt ein System also gewissermaßen durch sich selbst: Die Elemente, aus denen es besteht, müssen beginnen, sich beständig in einer spezifischen Weise aufeinander zu beziehen. So formt sich das System, das sich in dieser Formung von seiner Umwelt abgrenzt – und es existiert, bis die Selbstreferentialität, die es am Leben hält, endet.
Verdeutlichen lässt sich das wieder an einem Beispiel. Das System Familie entsteht, wenn mindestens zwei Menschen beginnen, sich beständig in einer spezifischen Weise aufeinander zu beziehen und in dieser wechselseitigen Referenzialität eine Abgrenzung von der Umwelt vornehmen. Diese Selbstreferentialität des Systems, dessen Funktionselemente die beispielhaft gewählten Menschen nun sind, ist damit notwendige Voraussetzung seiner Existenz: Wird die Kette der beschriebenen Referenzialität gebrochen, existiert das System Familie nicht mehr. Oder anders: Nimmt einer der beiden beteiligten Menschen nicht mehr beständig Bezug auf den anderen und unterlässt so die Abgrenzung des Familiensystems von der Umwelt, besteht die Familie als klar abgrenzbare Einheit nicht mehr.
Menschen und Handlungen in der Systemtheorie
Der Begriff des Menschen, der hier zur Veranschaulichung gewählt wurde, nimmt in der Systemtheorie Luhmanns jedoch keine Rolle ein – ebenso wie der der Handlung. Beide Begriffe sind Luhmann folgend insofern unterkomplex, als sie soziale Prozesse und Funktionsweisen auf intentionale Akte und autonome Individuen hinunterbrechen – und damit gerade absehen von der hochkomplexen Funktionsweise von Systemen. Das Ziel der Systemtheorie besteht jedoch gerade darin, so präzise wie möglich zu beobachten und zu beschreiben, wie soziale Systeme funktionieren. Der Rückgriff auf Konzepte wie das der Handlung, des freien Willens oder des Individuums ist damit unmöglich. Vorausgesetzt wird dabei zum einen die Existenz von Systemen und zum anderen eine – abgesehen von der ersten Annahme – konstruktivistische Erkenntnistheorie, der zufolge eine objektive Realität nicht erkennbar und die Welt, die wir erleben, in ihrer spezifischen Ausprägung von uns selbst konstruiert ist. Das führt dazu, dass wir nicht herausfinden können, wie die Welt wirklich ist, sondern uns auf Beobachtung und Beschreibung der Welt, wie wir sie erleben, die wir durch Interpretation, Wahrnehmung usw. selbst erst als solche hervorbringen, beschränken müssen.
Der narrative Ansatz: Was wir sind, sind wir durch Diskurse und Erzählungen
Der narrative Ansatz in der Psychologie ist von diversen theoretischen Strömungen beeinflusst worden. Zentral sind vor allem zwei Konzepte: ein konstruktivistischer Ansatz in der Erkenntnistheorie und Foucaults Diskurstheorie. Die Kernaspekte des konstruktivistischen Ansatzes wurden bereits benannt: Eine objektive Realität ist zumindest nicht zugänglich, sodass wir auf die Welt, die wir erleben beschränkt bleiben – und diese konstruieren wir durch unseren spezifischen Zugriff auf sie selbst mit. Für Narrative, Erzählungen, bedeutet das eine massive Aufwertung: Ob eine Geschichte, die wir uns von uns selbst erzählen, stimmt, lässt sich nicht durch Abgleich mit objektiven Fakten überprüfen. Wir sind damit gefangen in einem Netz aus Erzählungen, das wir nicht verlassen können. Eine objektive Beobachtungsposition einzunehmen, ist uns damit unmöglich.
Ein solcher Gedanke weist Ähnlichkeiten zu Foucaults Diskurstheorie auf. Dieser zufolge ist die Welt, in der wir uns bewegen, diskursiv strukturiert, wobei unter einem Diskurs eine Gruppe von Aussagen (Texte, Bilder, Filme, Gerede, Theorien usw.) zu einem Thema verstanden wird, die durch Macht reguliert ist. Wie unsere (soziale) Welt strukturiert ist, wie wir über bestimmte Dinge denken (können), wie wir uns zu ihnen äußern (können) usw. ist damit Produkt der jeweiligen diskursiven Strukturiertheit des sozialen Raums, in dem wir uns bewegen. Unsere je spezifische Subjektposition ist damit diskursiv erzeugt und nicht frei gewählt oder auf eine (biologische oder andere) Essenz zurückzuführen.
Für die therapeutische Praxis bedeutet das – wird von den Details und den vielen hier ungenannten Aspekten der Theorien abgesehen und stattdessen die genannte Gemeinsamkeit fokussiert – insgesamt eine zentrale Stellung von Erzählungen: Welche Geschichten wir von uns selbst erzählen, welche Geschichten andere von uns erzählen, in welche größeren Erzählungen wir eingebunden sind usw. wird bedeutsam.
Theorie und Praxis: Wie setzt die Systemische Therapie die Theorien um?
Da der vorliegende Artikel sich zentral mit der Systemischen Therapie und ihren theoretischen Hintergründen und nicht isoliert mit letztgenannten befassen soll, stellt sich die Frage, inwiefern diese Hintergründe auch in der Praxis der Systemischen Therapie (und nicht bloß in Ausbildung und Begründung) von Bedeutung sind. Wie also zeigt sich die Relevanz der Systemtheorie und des narrativen Ansatzes in der therapeutischen Praxis?
Familien- und Paartherapie als Ausgangspunkt der Systemischen Therapie
Hinsichtlich der Systemtheorie, die für die Systemische Therapie den wohl bedeutendsten theoretischen Hintergrund darstellt, kann zunächst auf den Ursprung in der Familien- und Paartherapie verwiesen werden. Als Vorreiter kann hier Nathan Ackerman, der bei psychischen Erkrankungen von Kindern die Familie in die Therapie einzubeziehen begann, genannt werden. In der Nachfolge Ackermans wurden unterschiedliche familientherapeutische Konzepte entwickelt. Zu nennen sind hier vor allem Salvador Minuchins strukturelle Familientherapie, die unterschiedliche familiäre Subsysteme, so etwa das Paarsystem und das Eltern-Kind-System, differenzierte und betrachtete, sowie Virginia Satir mit ihrer Familienskulpturtechnik, die die Arbeit an intrafamiliären Beziehungen erleichtern sollte. Bis heute sind systemische Ansätze und Denkweisen in der Familien- und Paartherapie weit verbreitet, was vor dem Hintergrund des Umstands, dass in diesem Feld ganz offensichtlich nicht bloß Individuen betroffen sind, naheliegend erscheint.
Einzeltherapie mit systemischem Ansatz
Von der ursprünglichen Fokussierung auf die Familienarbeit hat die Systemische Therapie sich im Laufe der Zeit jedoch insofern gelöst, als heute auch Einzeltherapien, die einem systemischen Ansatz folgen, etabliert sind. Zu verweisen ist hierbei auf ein Grundproblem therapeutischer Arbeit, die sich auf die Systemtheorie Luhmanns gründet: Wird mit Menschen gearbeitet, um das Leiden dieser Menschen zu lindern, so muss dabei notwendig von der Systemtheorie in ihrer Reinform abgerückt werden – schließlich stehen dann sehr wohl Handlungen, Intentionen und Individuen im Vordergrund, nicht aber abstrakte Systeme und ihre Funktionsweisen. Nichtsdestotrotz kann auch hier festgestellt werden, dass Spuren der Systemtheorie deutlich erkennbar sind, wird der einzelne Mensch doch zumindest nicht isoliert, sondern in seinem Eingebundensein in Systeme betrachtet. Kritisch anzumerken ist hierbei aus systemtheoretischer Perspektive jedoch die meist stattfindende Fokussierung auf das System Familie zuungunsten anderer Systeme, deren Teil der*die Patient*in ist.
Das Methodeninventar
Der narrative Ansatz hingegen schlägt sich weniger in der Grundorientierung der Systemischen Therapie als vielmehr in ihrem Methodeninventar nieder. So sind etwa das Reframing und die Arbeit mit Metaphern wesentlich beeinflusst von der These der wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Narrativen. Beim Reframing werden Umdeutungen bestimmter Sachverhalte angeregt, was sich lesen lässt als Umschreiben einer spezifischen Interpretationserzählung, während die Metaphernarbeit auf die epistemische Funktion von Sprachbildern setzt. Durch die unkonventionelle und metaphorische Darstellung soll Patient*innen das Einnehmen neuer Perspektiven ebenso erleichtert werden wie das Erkennen von Zusammenhängen etc.
Zu erkennen ist hier, dass durchaus ein narrativer Ansatz verfolgt wird, der jedoch weit von seiner eigenen theoretischen Begründung entfernt ist: Konstruktivistische Perspektiven klingen nur hintergründig an, während Foucaults Diskurskonzept in seiner gesellschaftlichen Fokussierung in der Praxis der Systemischen Therapie völlig absent ist. Zurückzuführen ist das jedoch auch darauf, dass diese theoretischen Hintergründe nicht direkter Bezugspunkt der Systemischen Therapie, sondern vielmehr der Bezugspunkt des Bezugspunkts sind.
Fazit: Die Theorien hinter der Systemischen Therapie
Festhalten lässt sich damit, dass hinter der Systemischen Therapie elaborierte Theorien stehen, die in wesentlichen Aspekten sowohl das Methodeninventar als auch die sonstige Ausrichtung der Systemischen Therapie maßgeblich beeinflussen. Festgestellt werden konnte ferner eine gewisse Pluralität im Theoriehintergrund, wenngleich die Systemtheorie den mit Abstand belangreichsten Bezugspunkt darstellt. In der therapeutischen Praxis kann die Theorieorientierung indes nicht in strenger Form durchgehalten werden, was bereits auf den Grundanspruch jeder Psychotherapie, der unhintergehbar eine Patient*innenfokussierung bedeutet, zurückzuführen ist.