Die Hauptfrage unserer Artikelserie lautet Was ist Stress?. Dass es keine einfache Antwort auf diese Frage gibt, konnten wir im ersten Teil der Serie bereits klären. Mit der Fight-or-Flight-Theorie, die auf Walter Cannon zurückgeht, wollen wir nun eine erste theoretische Annäherung an den Stress wagen. Die im Jahr 1915 entworfene Theorie erklärt Stress rein biologisch.
Der Ausgangspunkt: Posttraumatische Belastungsstörung
Auslöser für Cannons Interesse am Stressphänomen war die Beobachtung, dass zahlreiche Soldaten im Rahmen des Ersten Weltkriegs an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten. Cannons Ziel bestand nicht in erster Linie darin, herauszufinden, worum es sich beim Stress handelt; er wollte vielmehr die Hintergründe der posttraumatischen Belastungsstörung erforschen.
Cannon selbst war Physiologie. Ganz den Gepflogenheiten dieser Disziplin folgend, stützte er sich in seiner Forschung vorwiegend auf körperlich-biologische Abläufe. Es sollte also nicht verwundern, dass diese erste populäre Stresstheorie den Stress nicht als psychisches Phänomen versteht, sondern vor allem als körperliche Reaktion.
Fight or Flight: Stress als Schutzfunktion
Der Fight-or-Flight-Theorie zufolge liegt dem Stressempfinden eine körperliche Reaktion auf ein bedrohliches Erleben zugrunde. Das Gehirn registriert die Bedrohung und sendet daraufhin über das vegetative Nervensystem Signale an das Nebennierenmark. Das Nebennierenmark wiederum reagiert, indem es schlagartig große Mengen Adrenalin freisetzt. Dieses Hormon entfaltet in der Folge seine gut erforschten Wirkungen: Das Herz pumpt in kürzerer Zeit größere Mengen Blut durch den Körper, der Muskeltonus nimmt zu und die Atemfrequenz steigt. Da die Wirkung des Adrenalins nur sehr kurzzeitig anhält, wird bei einer längeren andauernden Bedrohung zudem Cortisol ins Blut abgegeben, um eine zwar nicht ebenso starke, dafür jedoch deutlich länger anhaltende Steigerung der Leistungsfähigkeit zu erreichen. Das Ziel dieser physiologischen Reaktion besteht – daher stammt der Name der Theorie – darin, den Körper zu Kampf oder Flucht zu befähigen.
Vor- und Nachteile der Fight-or-Flight-Reaktion
Die Vorteile der körperlichen Reaktion auf eine Bedrohung sind offensichtlich: Die Leistungsfähigkeit wird für kurze Zeit enorm gesteigert, um die Bewältigung der Situation zu ermöglichen. Werden zur Flucht oder zum Kampf körperliche Kräfte benötigt, ist das im Zweifelsfalle überlebenswichtig. Was – evolutionsbiologisch betrachtet – in der Entwicklung der Menschheit einmal sinnvoll gewesen sein mag, entfaltet heute jedoch bereits in der akuten Bedrohungssituation destruktive Wirkungen: Rationales Denken wird durch den massiven Ausstoß der genannten Hormone kurzzeitig deutlich in den Hintergrund gedrängt, was Affekthandlungen erleichtert und die darüber hinausgehende Handlungsfähigkeit lähmt. Angesichts der Tatsache, dass die allermeisten Bedrohungen, denen wir in unserer heutigen Lebenswelt begegnen, keine massive körperliche Reaktion erfordern, erscheint die Fight-or-Flight-Reaktion unseres Körpers in dieser Hinsicht eher nachteilig. Hier sei etwa an Prüfungssituationen oder Streit gedacht – in diesen Fällen wäre eine rationale Handlung vielfach deutlich sinnvoller als eine aus dem Affekt erfolgende.
Dauerbelastungen: Stress als Schädigungsfaktor
Die körperliche Stressreaktion, die von Cannon beschrieben wurde, ist ausschließlich auf kurzzeitige Bedrohungssituationen abgestimmt. Hält die Bedrohung oder Belastung an, ist der Körper nicht in der Lage, angemessen zu reagieren. Die Ausschüttung von Cortisol hält an, was auf Dauer zu einer Schädigung des Körpers führt und negative Auswirkungen auf die psychische Situation zeitigt. In diesem Falle liegt chronischer Stress vor, der auch heute noch als wesentlicher Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen gilt.
Kritische Einordnung
Auch heute noch wird die Fight-or-Flight-Theorie in Psychologie und Medizin breit rezipiert. Konsens ist jedoch, dass sie zu eindimensional auf bestimmte physiologische Reaktionen konzentriert ist: Tatsächlich, so der heutige Forschungsstand, ist die physiologische Reaktion deutlich komplexer und differiert in Abhängigkeit von der auslösenden Situation zum Teil deutlich. Darüber hinaus kann der Fight-or-Flight-Theorie eine biologistisch-mechanistische Sicht auf den Menschen vorgeworfen werden: Der Mensch wird nicht als Subjekt betrachtet, sondern als physiologischen Prozessen unterworfenes Objekt. Alle nicht biologisch greifbaren Aspekte der Stressreaktion werden schlicht ausgeblendet, was wiederum die Eindimensionalität der Theorie aufzeigt.
Nichtsdestotrotz muss konstatiert werden, dass Cannons These für die weitere Stressforschung wegweisend war und die Grundzüge der körperlichen Stressreaktion treffend beschreibt.
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