„Die Musiktherapie ist in der Anlage zu den Heilmittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses ausdrücklich als ‚nichtverordnungsfähiges Heilmittel‘ eingestuft
worden. […] Eine Leistungsübernahme scheitert gesetzlich somit daran, dass es sich bei der Musiktherapie nicht um eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen handelt. Auch für den Bereich der Kunsttherapie wird dieser Argumentation gefolgt. […] Bislang liegen dem Gemeinsamen Bundesausschuss nach eigenen Aussagen keine Informationen vor, die nahelegen, dass es sich bei der Kunsttherapie um eine medizinische Methode handelt, die die für die vertragsärztliche Versorgung gesetzlich vorgegeben Kriterien ‚diagnostischer oder therapeutischer Nutzen‘, ‚medizinische Notwendigkeit‘ und ‚Wirtschaftlichkeit‘ erfüllen würde.“
So lautet eine Stellungnahme der Rechtsanwältin Martina Hölz (Hölz, 2013) zur Rechtslage hinsichtlich der Abrechenbarkeit von Leistungen im Rahmen von Musiktherapie, Tanztherapie und anderen künstlerischen Therapien.
Ein therapeutischer Nutzen wird künstlerischen Therapien, zu denen neben der Kunsttherapie nicht nur Tanz- und Musik-, sondern etwa auch die Schreibtherapie zählt, vom Bundesausschuss also aberkannt, weshalb diese Leistungen nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Musik und Tanz sind aber nicht nur Freizeitbeschäftigungen, sondern bergen ein großes therapeutisches Potenzial, das ich im folgenden Artikel sowohl vor dem Hintergrund biologischer Korrelate, aber auch sozialer Aspekte in den Blick nehmen möchte.
Hierzu stelle ich zunächst die üblichen therapeutischen Ansätze zur Behandlung psychischer Erkrankungen vor (Aktionsbündnis Seelische Gesundheit), ehe ich näher auf den Forschungsstand zur Musik- und Tanztherapie eingehe.
Konventionelle Behandlungen von psychischen Krankheiten
In Deutschland werden psychische Erkrankungen mit Hilfe von Psychotherapien behandelt. Zum Einsatz kommen dabei vier Verfahren, die von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannt werden.
- Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass sich Menschen bestimmte Verhaltensmuster durch gemachte Erfahrungen aneignen. Sind diese erlernten Muster unangemessen, kann das zu beeinträchtigenden Verhaltens- und Erlebensweisen führen. In der Verhaltenstherapie sollen diese Verhaltensmuster daher erkannt und nachhaltig verändert werden.
- Die analytische Psychotherapie geht davon aus, dass psychische Beschwerden auf unbewusste und verdrängte Erfahrungen und Konflikte aus der Kindheit zurückgehen. In den Therapiesitzungen wird folglich versucht, Verdrängtes wieder ins Bewusstsein zu rufen, Konflikte erneut zu durchleben und so zu verarbeiten.
- Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie geht wie die Psychoanalyse davon aus, dass psychische Beschwerden in unbewussten Konflikten und Kindheitserfahrungen begründet liegen. Der Unterschied ist jedoch, dass die tiefenpsychologische Therapie in ihrer Zielsetzung vor allem die aktuellen Probleme der Patient*innen zu lösen versucht.
- Die Systemische Therapie betrachtet die Patient*innen nicht isoliert, sondern als Teile der funktionalen Systeme, in die sie eingebunden sind – hierzu zählen etwa die Familie oder der Freundeskreis. Psychische Probleme werden als innerhalb des jeweiligen Systems sinnvolle Reaktionsmuster verstanden, die der Stabilisierung des Systems dienen, den Betroffenen jedoch schaden. Psychische Erkrankungen werden folglich in ihrem sozialen Entstehungs- und Wirkkontext betrachtet und behandelt.
Neben den vorgestellten Formen der Psychotherapie kommen teilweise auch Psychopharmaka unterstützend zum Einsatz, um den Effekt der Therapie zu verbessern oder um die Klient*innen zu stabilisieren. Medikamente wie beispielsweise Hormonpräparate, die hier eingesetzt werden, haben jedoch teilweise starke Nebenwirkungen, worauf ich später in Bezug auf die Behandlung von Alzheimer noch einmal konkret eingehen werde. Gerade für dieses Krankheitsbild sind die Behandlungsmöglichkeiten durch herkömmliche Psychotherapien beschränkt (Burns et al., 2005).
Künstlerische Therapien hingegen bieten vielversprechende Ansätze für die Behandlung der Alzheimerkrankheit, aber auch für andere Beschwerdebilder, von denen ich im Folgenden einige beispielhaft herausgreife.
Der Einsatz von Musik und Tanz in der Therapie
Tanz und Musik bei Depression
Jede vierte Frau und jeder achte Mann ist in seinem Leben einmal von einer Depression betroffen. Da die Schwere der Krankheit häufig unterschätzt und diese unzureichend behandelt wird, sterben jährlich in Deutschland circa 10.000 Personen an Suizid. Es braucht neben der Psychotherapie dringend geeignete Behandlungsformen, die wirkungsvoll eingesetzt werden können und zu einer schnellen Verbesserung der Symptome führen. Unter anderem haben die Wissenschaftler Mehibe Akandere und Banu Demir (2011) sowie die Forschungsgruppe um die Psychologin Sabine Koch (Koch, Morlinghaus, & Fuchs, 2007) unabhängig voneinander bestätigt, dass ein zwölfwöchiges Tanztraining nicht nur eine signifikante Verbesserungen der Depressionssymptomatik bewirken kann, sondern auch die Vitalität der Patient*innen deutlicher verbessert als beispielweise ein Sporttraining. Gunter Kreutz und Kolleg*innen (Kreutz, Bongard, Rohrmann, Hodapp, & Grebe, 2004) zeigten zudem, dass das Singen im Chor den allgemeinen Gemütszustand verbessert, während negative Gedanken und Gefühle abnehmen. Sogar das Immunsystem profitiert vom gemeinsamen Singen im Chor.
Tanzintervention gegen Angststörungen
Auch bei Angststörungen kann eine Tanzintervention deutlich zur Verbesserung der Symptome beitragen. Die beiden Wissenschaftler Andre Lesté und John Rust (Lesté & Rust, 1990) fanden in ihrer Untersuchung mit einer zwölfwöchigen Tanzintervention eine signifikante Senkung der Ängstlichkeitswerte der Teilnehmenden und das unabhängig davon, ob bereits tänzerische Erfahrung vorhanden war. In den Kontrollgruppen wurden ein Sporttraining, ein Mathematikkurs und auch ein Musikkurs absolviert. Keine dieser Interventionen erzielte einen vergleichbaren positiven Effekt.
Musik gegen körperliche Schmerzen
Nicht nur bei psychischen, sondern auch bei physischen Beeinträchtigungen zeigt der Einsatz von Musik Wirkung. In einer Studie des Pharmakonzerns Johnson & Johnson empfanden Patient*innen, die nach einer Operation Musik hören durften, ihre Schmerzen als weniger stark und benötigten im Schnitt 5,7 mg weniger Morphium zur Schmerzsenkung als Patient*innen, die keine Musik hörten (Cepeda, Carr, Lau, & Alvarez, 2006).
Musik und Paartanz gegen Stress
In unserer westlichen Leistungsgesellschaft ist Stress für viele ein täglicher Begleiter. Bis zu einem gewissen Maße kann Stress positiv sein (s. auch den Artikel zum Stressmodell nach Lazarus). Chronischer Stress allerdings erhöht das Risiko für diverse psychische Erkrankungen sowie etwa für koronare Herzkrankheiten und Bluthochdruck deutlich. Die Psychologin Cynthia Quironga Murcia hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit (Quiroga Murcia, Kreutz, Clift, & Bongard, 2010) den Effekt von Tangotanzen auf die Konzentration des Stresshormons Cortisol untersucht. Beim Vergleich von Tangotanzen mit und ohne Musik und mit und ohne Partner*in führte das Tanzen mit Musik und mit Partner*in zur deutlichsten Senkung von negativen Gefühlen und der Cortisolkonzentration im Speichel. Gleichzeitig stieg die Testosteronkonzentration an – ein interessantes Ergebnis, das für die Alzheimerforschung besonders relevant ist.
Musik- und Tanztherapie bei Alzheimer
Denn bei der Alzheimer-Erkrankung hängt die Abnahme der Testosteronkonzentration im Blut mit dem Abfall der kognitiven Leistungen zusammen. Auch das bei Alzheimer häufig beeinträchtigte Orientierungsvermögen und der Gedächtnisverlust können durch Tanz- oder Musiktherapie signifikant verbessert werden. Musik und Lieder aus der Vergangenheit werden häufig erinnert, sodass mit Hilfe von Musik- oder Tanztherapeut*innen der Transfer beeinträchtigter kognitiver Fähigkeiten auf diese noch funktionierenden neuronalen Strukturen gelingen kann (Fukui & Toyoshima, 2008).
Musik in der Regeneration nach einem Schlaganfall
Der Psychologe Teppo Särkämö ((Särkämö et al., 2008) untersuchte, wie Musik zur Genesung nach einem Schlaganfall beitragen kann. In einer Gruppe von insgesamt 54 Patient*innen hörte ein Drittel von ihnen zwei Monate lang selbstausgewählte Lieder, ein weiteres Drittel hörte in diesem Zeitraum Hörbücher, der Rest diente als Kontrollgruppe, die lediglich die Standardbehandlung erhielt. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Erholung in den Bereichen des verbalen Gedächtnisses und der fokussierten Aufmerksamkeit in der Musikgruppe signifikant stärker verbesserte als in der Sprach- und Kontrollgruppe. Zudem zeigte die Musikgruppe weniger depressive und verwirrte Stimmungen als die Kontrollgruppe. Musikhören in der frühen Phase nach einem Schlaganfall kann die kognitive Erholung deutlich verbessern und negative Stimmungen verhindern.
Tanztherapie bei Parkinson
Zur Parkinson-Erkrankung liegen besonders viele eindrucksvolle Studienergebnisse zur Wirksamkeit von Musik- und Tanzinterventionen vor, was besonders beachtenswert ist, da herkömmlich eingesetzte Medikamente die Symptome nur in begrenztem Maße lindern können. Die Symptome bei Parkinson zeichnen sich durch den allgemein bekannten Tremor (Zittern), Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen aber auch durch kognitive und psychische Beeinträchtigungen wie Depression, Apathie und Demenz aus.
Die japanische Forschungsgruppe um Hiriko (Hashimoto, Takabatake, Miyaguchi, Nakanishi, & Naitou, 2015) hat 46 Patient*innen mit einer milden bis mittleren Parkinson-Symptomatik untersucht. Die Studienteilnehmer*innen nahmen dabei zwölf Wochen lang einmal pro Woche an einer 60-minütigen Tanzstunde teil. Verglichen wurden die Werte der Tanzgruppe mit Parkinsonpatienten, die entweder an einem Sporttraining oder an keiner Intervention teilnahmen. Nur in der Tanzgruppe zeigte sich nach den zwölf Wochen eine signifikante Verbesserung sowohl der motorischen Funktionen wie Laufen und Balance als auch der psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen wie Depression, Apathie und kognitive Leistungsfähigkeit. Auch die Neurowissenschaftlerin Cecilia (Fontanesi & DeSouza, 2020) konnten die positiven Effekte von Tanz für Parkinsonpatient*innen bestätigen. Sie untersuchten außerdem die Selbstwirksamkeit, also den Glauben an sich selbst, der bei den Parkinsonpatient*innen in der Tanzgruppe, im Gegensatz zur Sportgruppe, deutlich anstieg.
Persönlichkeitsstärkende Effekte durch Musik
Die Wirkung auf das Selbstbild
Die bei Parkinson-Patient*innen gefundene Steigerung der Selbstwirksamkeit ist kein zufälliger Nebeneffekt der Tanztherapie. Ganz im Gegenteil sind Selbstwirksamkeit und der damit verbundene Selbstwert ein wichtiger Mediator für die positive Wirkung von Musik und Tanz auf den Menschen.
Die Psychologin Julia F. (Sowislo & Orth, 2013) der Universität Basel fanden in diesem Zusammenhang heraus, dass ein niedriger Selbstwert kausal mit dem Auftreten von Depressionen zusammenhängt. Umgekehrt sorgt eine Steigerung des Selbstwertgefühls durch Tanz für die Abnahme von Depressionssymptomen.
Dieser positive Effekt gilt dabei für alle Altersgruppen. Sowohl bei Kindern und Jugendlichen (Trusty & Oliva, 1994) als auch bei Erwachsenen (Quiroga Murcia et al., 2010) wurde eine Steigerung des Selbstwertes durch eine Teilnahme am Tanzunterricht bestätigt.
Dass Tanz zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, hängt laut dem Psychotherapeuten Detlef Kappert auch mit dem Zugang zum Unbewussten durch Tanz zusammen. So gibt es laut Kappert den Zusammenhang von unterschiedlichen Bewegungsqualitäten mit der Reizung verschiedener Gehirnareale. Die Reizung der Großhirnrinde löst eher grobe, sogar hässlich anmutende Bewegungen aus, die Reizung tieferer, unbewusster Ebenen hingegen anmutig fließende, sinnhaft-ganzheitliche und schöne Bewegungen (Kappert, 2021).
Neurologisch betrachtet findet das Feintuning unserer Bewegungen nicht im Kortex, sondern im Kleinhirn statt, also unbewusst. Das Kleinhirn sorgt dafür, dass wir unser Gleichgewicht halten können, während wir unsere Bewegungen zielgerichtet und korrekt ausführen. So können wir beispielsweise ein Glas mit Wasser zu unserem Mund führen, ohne es zu verschütten. Wir denken nicht über den exakten Neigungswinkel unseres Handgelenks nach, damit das Wasser im Glas bleibt. Lediglich die Entscheidung, das Glas zu nehmen und zu trinken, wird von unserem Bewusstsein gesteuert (Osterath, 2011).
Es scheint also Evidenz zu geben für die These Kapperts, dass schöne, feine Bewegungen mit tiefliegenden Hirnarealen und damit unbewussten Gehirnaktivitäten zusammenhängen.
Tanz in der Gruppe
Musik und Tanz haben einen weiteren, nicht zu vernachlässigenden positiven Einfluss auf die Persönlichkeit. Jäger-und-Sammler-Kulturen nutzen dieses Potenzial schon lange. Dort wurde Musik bereits vor hunderten von Jahren nicht nur zur Behandlung neuropsychiatrischer Erkrankungen eingesetzt, sondern vor allem zur Bildung und Stärkung der überlebenswichtigen Gemeinschaft. Denn Musik und Tanz werden meistens in Gruppe durchgeführt und sind in vielen Völkern auch heute ein fester gesellschaftlicher Bestandteil. Nicht ohne Grund, denn gemeinsames Musizieren stärkt den sozialen Zusammenhalt in einer Gruppe und die gegenseitige Empathie. Auch das Vertrauen in die gegenseitige Fürsorge wächst, während gleichzeitig Konflikte und Antipathie abgebaut werden (Cross, Laurence, & Rabinowitch; Hart & Di Blasi, 2015; Koelsch, 2014). Diese positiven sozialen Gefühle steigern unser Wohlbefinden und das Gefühl von Zugehörigkeit unterstützt uns in unserer emotionalen Identifikation (Koelsch, 2014).
Dass beinahe jeder Mensch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe hat und nach langfristigen, stabilen zwischenmenschlichen Bindungen strebt, ist bewiesen (Koelsch, 2014). Und dieses Bedürfnis zu befriedigen tut nicht nur gut, sondern ist lebenswichtig. Soziale Beziehungen stärken unsere Gesundheit und steigern die Lebenserwartung, während gleichzeitig das Risiko, an einer Depression zu erkranken, sinkt (Peirce, Frone, Russell, Cooper, & Mudar, 2000). Soziale Isolation hingegen erhöht das Risiko für Krankheit und die Sterblichkeit (Koelsch, 2014).
Kritiker*innen könnten jetzt einwenden, dass die genannten positiven Effekte mit jeder beliebigen Gruppenaktivität erreicht werden können. Sicherlich können auch Aktivitäten wie Teamsport das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, Musik und Tanz zeichnen sich jedoch durch eine besondere Synchronisation mit unseren Mitmenschen aus, die eine besonders empathische Kommunikation erfordert und fördert.
Feingefühl und Empathie sind notwendig, um das gemeinsame Ziel, synchron zu tanzen bzw. harmonisch zu musizieren zu erreichen (Koelsch, 2014). Dadurch fordert das Tanzen in der Gruppe in besonderem Maß eine empathische Kommunikation, sozialen Kontakt und soziale Kognition. In einer Studie der Oxford University (Launay, Dean, & Bailes, 2014) hat sich darüber hinaus gezeigt, dass mit einer höheren Synchronität beim gemeinsamen Musizieren und Tanzen auch eine größere Zuneigung gegenüber den Gruppenmitgliedern und ein intensiveres Zusammengehörigkeitsgefühl empfunden wird.
Die neuronale Grundlage der Synchronisation und der damit einhergehenden Empathie sind die Spiegelneuronen im präfrontalen Kortex. Diese Gehirnzellen feuern beim Beobachten einer handelnden Person ähnlich intensiv wie beim eigenständigen Ausführen der jeweiligen Aktion. Sie sind damit wesentlich beteiligt an einer funktionierenden musikalischen Synchronisation mit einem Partner oder in einer Gruppe und gleichzeitig verantwortlich für das Empfinden von Empathie und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
Dies öffnet den Wirkungsraum von Musiktherapie auch zur Behandlung von Patient*innen mit Autismus-Spektrum-Störungen, die häufig an Alexithymie (Gefühlsblindheit) leiden und deshalb Schwierigkeiten in der sozialen Interkation und Kommunikation haben.
Der Psychologe Rory Allen und seine Kollegin Pamela Heaton (Allen & Heaton, 2010) fanden heraus, dass beim Hören von Musik diese Probleme kaum bis gar nicht auftreten. Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sind im Gegenteil sensibel für emotionale und soziale Dimensionen der Musik und sie reagieren mit Freude und Wertschätzung auf musikalischen Input. Diese Emotionen und Fähigkeiten, die mithilfe der Musik wahrgenommen und gefördert werden, können in der Musiktherapie auf nicht-musikalische Bereiche wie die zwischenmenschliche Kommunikation übertragen werden.
Ein erfolgreicher Einsatz von Musiktherapie zur Behandlung der Autismus-Spektrum-Störung aber auch von sozialen Ängsten liegt deshalb nahe (Koelsch, 2014).
Biologische und neurologische Wirkungen von Musik und Tanz
Das menschliche Gehirn ist plastisch und bis ins hohe Alter anpassungsfähig. Wie ein Muskel, der durch intensives Training wächst, passen sich auch Gehirnareale bei entsprechender Übung an die Anforderungen an.
Verschiedene Studien an Musiker*innen zeigen diese beeindruckende Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns:
Wissenschaftler*innen des Center for Music In the Brain an der Aarhus University (Kleber et al., 2016) fanden beispielsweise heraus, dass bei professionellen Opernsängern die Graue Substanz im somatosensorischen und im auditorischen Kortex deutlich größer war als bei Nicht-Singenden.
Die Studie des Wissenschaftlers Christo Pantev und seiner Kollegen kommt zu einem analogen Ergebnis in Bezug auf Musiker*innen von Saiteninstrumenten. Bei Gehirnscans der Musiker*innen zeigten sich plastische Veränderungen im somatosensorischen Kortex dabei spezifisch für die häufig benutzten und stimulierten Finger.
Die Wissenschaftler*innen um Qiongling Li ( 2019) der Universität Beijing konnten darüber hinaus zeigen, dass sich unser Gehirn nicht nur durch jahrelange musikalische Tätigkeit verändert. Bereits nach einem 24-wöchigen Klaviertraining hatte sich bei den Studienteilnehmer*innen eine höhere Flexibilität im visuellen und auditiven System entwickelt und die beiden Gehirnareale waren sowohl in sich als auch miteinander besser vernetzt. Je weiter die Studie fortschritt, je länger also Klavier geübt wurde, desto deutlicher zeigten sich diese Effekte.
Diese Plastizität macht sich die Musiktherapie zunutze. Wenn aufgrund von Parkinson, Demenz oder einem Schlaganfall einzelne Gehirnareale beschädigt sind, können durch Musik bestehende neuronale Netzwerke angesteuert und aktiviert werden, die so die Aufgaben der beschädigten Areale übernehmen. Musik ist dafür deshalb so gut geeignet, da sie auch in den Emotionszentren unseres Gehirns verarbeitet wird (Boso, Politi, Barale, & Emanuele, 2006), sodass mit ihr verbundene Erinnerungen und Fähigkeiten wieder leichter zugänglich werden (El Haj, Postal, & Allain, 2012). Alzheimer-Patienten erinnern sich beispielsweise auch bei fortgeschrittener Krankheit häufig an komplette Liedtexte aus ihrer Vergangenheit. Die beiden japanischen Forscher Hajime Fukui und Kumiko (Fukui & Toyoshima, 2008) fanden zudem heraus, dass Musik zu einer schnelleren Regeneration von Gehirnzellen führt und sogar deren Wachstum anregen kann.
Musik wirkt jedoch nicht nur direkt, sondern auch indirekt über Sexualhormone auf unsere Gehirnzellen und Nervenbahnen. In fortgeschrittenem Alter nimmt der Spiegel von Testosteron bzw. Östrogen ab. Das ist ein natürlicher Vorgang. Nimmt die Konzentration der Sexualhormone jedoch in überdurchschnittlichem Maß ab, wird das mit dem Auftreten von Kognitionsstörungen, Gedächtnisstörungen und Depressionen in Verbindung gebracht (Fukui, Arai, & Toyoshima, 2012). Grund dafür ist die regulierende Rolle von Östrogen und Testosteron in unserem zentralen Nervensystem.
Östrogen ist dafür zuständig die Nerven vor Beschädigung zu schützen und die Zellneubildung im Gehirn zu kontrollieren. Östrogen verhindert auch Beta-Amyloid-Peptide in den Neuronen, die bei Alzheimer vermehrt auftreten und die Kommunikation zwischen Neuronen im Gehirn beeinträchtigen (Fukui et al., 2012). In Studien an Ratten hat man auch Testosteron eine ähnliche Wirkung nachgewiesen: Das Hormon wirkt ähnlich wie Östrogen senkend auf die Anzahl der Beta-Amyloid-Peptide in den Neuronen. Zellsterben wird unterdrückt und Nervenbahnen werden durch Testosteron geschützt.
Deshalb werden in der herkömmlichen Alzheimerbehandlung häufig Hormonpräparate eingesetzt, um den Krankheitsverlauf abzumildern. Die Hormone wirken zwar positiv auf kognitive Fähigkeiten, bringen aber nicht wenige Nebenwirkungen mit sich – etwa ein allgemein gesteigertes Krebsrisiko, ein erhöhtes Risiko für Brust- und Prostatakrebs, ein erhöhter Cholesterinspiegel, ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen und Schlaganfälle sowie körperliche Veränderungen unter Östrogenersatztherapie. Die Entwicklung einer wirksamen Alzheimertherapie ohne solche oder andere Nebenwirkungen ist deshalb dringend notwendig.
Japanische Wissenschaftler*innen der Nara-Universität haben die Wirkung von Musiktherapie auf diese beiden Sexualhormone (Östradiol, das körpereigene Östrogen, und Testosteron) an sechs Frauen zwischen 67 und 90 Jahren untersucht. Den Teilnehmerinnen sang eine Musiktherapeutin einen Monat lang für täglich eine Stunde zwölf ausgewählte Lieder vor. Bei den Teilnehmerinnen, die vor der Studie einen ausnahmslos niedrigen Hormonspiegel aufwiesen, wurde durch die Intervention eine deutliche Erhöhung des Östradiol- und Testosteronspiegels beobachtet (Fukui et al., 2012). Auch die Befunde der Psychologin Marianna Hassler der Universität Tübingen (Hassler, 1992) legen nahe, dass Musik den Hormonspiegel normalisiert. Sie fand zudem heraus, dass Musik das räumliche Vorstellungsvermögen schult. Das lässt hoffen, dass Musiktherapie nicht nur die allgemeine Kognition stärken kann, sondern auch die räumliche Orientierung, welche bei Alzheimerpatient*innen häufig eingeschränkt ist, verbessern kann (Fukui & Yamashita, 2003).
Zurück zu den Hormonen: Nicht nur die Konzentration der Sexualhormone wird durch Musik und Tanz reguliert, auch auf das Stresshormon Cortisol wirken Musik (Fukui & Toyoshima, 2008) und Tanz (Quiroga Murcia et al., 2010) senkend.
In Stresssituationen eingesetzt, verhindert Musik die gängige Post-Stress-Antwort unseres Gehirns, die normalerweise das Cortisollevel auch nach einer stressigen Situation noch weiter ansteigen lässt. Stephanie Khalfa und ihre Kolleginnen der Université de la Méditerranée Marseille untersuchten das Cortisollevel von Studierenden während einer Prüfungssituation. Hörten die Studierenden währenddessen Musik, stieg das Hormon nach Verschwinden des Stressors nicht weiter an und war auch von Beginn an etwas niedriger als bei Studierenden, die einfacher Stille ausgesetzt waren. In Stille stieg das Level des Cortisolspiegels im Blut hingegen auch nach der Prüfung für weitere 30 Minuten an (Khalfa et al., 2003).
Der Gegenspieler von Cortisol hingegen, das Hormon Oxytocin, steht für eine gute Stressresilienz. Ein Anstieg des Oxytocinlevels kann durch Musikhören, Musizieren und Singen erreicht werden, wie die kanadische Psychologin Mona Lisa Chanda und ihr Kollege Daniel J. Levitin (Chanda & Levitin, 2013) herausfanden.
Besser bekannt ist Oxytocin als das Kuschel- oder Bindungshormon, da es essenziell für soziale Kontakte, soziale Bindung und Zugehörigkeitsgefühl ist. Das erklärt wiederum, warum beim gemeinsamen Singen und Musizieren das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit entsteht und dieses eine so positive Wirkung auf unsere Gesundheit hat.
Fazit: Das Potenzial von Musik und Tanz in der Therapie
Musik und Tanz wirken also in unterschiedlichster Weise positiv auf uns. Das ist subjektiv wahrnehmbar, aber auch hormonell messbar. Durch Musik und Tanz fühlen wir uns nicht nur besser, sondern auch einer Gemeinschaft zugehörig. Sie schulen uns in Empathie und Kommunikation und sind die beste Medizin für unser Gehirn in jedem Lebensalter. Daraus lässt sich ein erfolgsversprechender Einsatz von Musik und Tanz bei der Behandlung von (sozialen) Angststörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, chronischem Stress, Depressionen, Parkinson und der Alzheimer-Demenz ableiten. Ein entscheidender Vorteil gegenüber medikamentösen Behandlungen ist, dass absolut keine negativen Nebenwirkungen zu erwarten sind. Dass der Einsatz von Medikamenten, trotz wissenschaftlicher Datenlage, nach wie vor künstlerischen Therapien vorgezogen wird und Musik- und Tanztherapien zum Großteil von der gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt werden, bleibt vor diesem Hintergrund unverständlich. Vielleicht ist der Punkt Wirtschaftlichkeit hier eher ausschlaggebender als das Prinzip des therapeutischen Nutzens und der medizinischen Notwendigkeit.
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