Im vierten Teil der Artikelserie zum Thema Stress nehmen wir das transaktionale Stressmodell nach Richard Lazarus in den Blick, das sich maßgeblich von den bisher vorgestellten Theorien unterscheidet. Es bricht mit der rein biologischen Betrachtungsweise des Stressphänomens und nimmt stattdessen das Individuum mit seiner Stressbewältigungskompetenz in den Blick. Wie genau das geschieht und was das konkret bedeutet, soll nachfolgend geklärt werden.
Stress ist subjektiv
Lazarus geht erstmals davon aus, dass es sich beim Stress nicht um ein Faktum handelt, das alleine aus der Art des Stressors resultiert. Er sieht im Stress vielmehr ein subjektives Phänomen: Erst das Aufeinandertreffen eines bestimmten Stressors und einer bestimmten Person führt zu Stress. Was zunächst trivial klingen mag, hat enorme Konsequenzen nicht nur für die Art, über Stress zu sprechen, sondern auch für den Umgang mit Stress.
Wird ein Stressor als notwendigerweise Stress verursachend verstanden, lässt sich ihm wenig entgegensetzen. Stress ist in diesem Falle ein notwendiges Resultat eines bestimmten Reizes. Lazarus bringt nun jedoch das Subjekt ins Spiel und führt damit – metaphorisch gesprochen – eine weitere Variable in die bisher sehr einfache Gleichung ein: Es kommt nicht nur auf die Art des Stressors, sondern auch und vor allem auf den Umgang des Individuums mit dem Stressor an.
Dass diese Betrachtungsweise plausibel ist, lässt sich leicht durch alltägliche Beobachtungen zeigen. So ist der Tod einer nahestehenden Person für X ein traumatisches Ereignis, während er Y kaltlässt. Geraten X und Y zusammen in einen Autounfall, kann X noch Jahre später unter der Belastung leiden, während Y schon nach wenigen Wochen kaum noch an den Vorfall denkt.
Die Transaktion ist entscheidend
Entscheidend für das Stressphänomen ist nach Lazarus entsprechend nicht der Stressor, sondern die Transaktion zwischen Stressor und Person. Er trennt sich damit vom bisher vorherrschenden Reiz-Reaktions-Denken, das aus einer deterministischen Perspektive das Individuum, das dem Stressor ausgesetzt ist, als hilfloses Objekt betrachtet. Stattdessen weist Lazarus darauf hin, dass dem Stresserleben direkt eine Bewertung des Erlebten vorausgeht. Diese Bewertung nun rückt er ins Zentrum seiner Stresstheorie.
Nach Lazarus nimmt jede Person bei jedem Reiz, der auf sie eintrifft, zunächst eine Primärbewertung vor, die den Reiz in eine von drei Kategorien einteilt: Er ist irrelevant, positiv oder belastend. Im Folgenden konzentriert Lazarus sich auf die als belastend bewerteten Reize und macht hier drei weitere Unterscheidungen aus: Die Situation kann eine Herausforderung, eine Bedrohung oder einen Schaden darstellen. Eine Herausforderung ist zwar negativ besetzt, kann jedoch bewältigt werden, während eine Bedrohung wahrscheinlich mit einem Schaden einhergeht. Die letztgenannte Kategorie trifft auf all jene Situationen zu, die unmittelbar mit einem Schaden einhergehen.
Nach dieser ersten Einschätzung der Situation erfolgt eine sekundäre Bewertung, die die zur Bewältigung erforderlichen mit den vorhandenen Ressourcen abgleicht. Hierzu werden zunächst die vorhandenen Bewältigungsstrategien (auch: Copingstrategien) analysiert, ehe eine oder mehrere zur Anwendung gebracht werden. Abschließend steht die Einschätzung des Erfolgs. Haben die vorhandenen Bewältigungsstrategien ausgereicht, ist die Situation bewältigt und damit abgeschlossen. Ist das jedoch nicht der Fall, entsteht Stress. Stress ist damit nach Lazarus zu verstehen als Reaktion auf das Erkennen, eine Situation mit den zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien nicht angemessen bewältigen zu können und weist damit auf die eigene Insuffizienz hin.
Coping als Reaktion auf Stress
Da eine anhaltende Stressbelastung für das Individuum nicht tragbar ist, wird es sich auf die Suche nach neuen Mitteln der Situationsbewältigung machen. Stellt es also fest, dass die bisher zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien nicht ausreichen, setzt ein Lernprozess ein, an dessen Ende im Idealfalle eine Erweiterung des Repertoires an Copingstrategien steht.
Diese Copingstrategien können sich dabei deutlich voneinander unterscheiden. Lazarus selbst differenziert drei Arten des Copings. Während das problemorientierte Coping darauf zielt, eine Lösung für die Situation zu finden, hebt das emotionsorientierte Coping darauf ab, den Bezug zur Situation zu ändern. In letztere Kategorie fallen etwa Akzeptanzansätze, die nicht mehr die Situation selbst verändern wollen, sondern das Individuum befähigen sollen, mit ihr zu leben. Die dritte Copingform, das bewertungsorientierte Coping, besteht in einer Neubewertung der Situation vor dem Hintergrund einer Erweiterung des problem- oder emotionsorientierten Copingrepertoires: Wird die Situation angesichts neuer Fertigkeiten nicht mehr als Bedrohung, sondern nur noch als Herausforderung wahrgenommen, senkt das bereits die psychische Belastung.
Das Stressmodell nach Lazarus: Kritik und Würdigung
Das Stressmodell nach Lazarus hebt sich deutlich von den bisher vorgestellten ab, da es erstmals das Individuum selbst in den Blick nimmt und es nicht als seiner Biologie oder äußeren Umständen bedingungslos unterworfen versteht. Damit und mit der Fokussierung auf die Bewältigung von Problemen bietet es sich als Folie nicht nur für das Verstehen von Stressphänomenen, sondern auch für ein bewältigend-therapeutisches Eingreifen an: Psychotherapeutische Interventionen sind nur sinnvoll, wenn das Individuum selbst in der Lage ist, seine Situation zu verändern. Anders als Cannon oder Henry geht Lazarus davon aus, was sich nicht nur mit empirischen Befunden deckt, sondern auch dem (post-)modernen Verständnis des Subjektes entspricht.
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